Die Menschen in Harlem, wo Jamal Joseph lebt, waren ausser sich. An der 125. Strasse kam es zu spontanen Freudentänzen.
«So muss es 1938 gewesen sein», denkt Jamal Joseph. Sein Grossvater hatte ihm davon erzählt, wie die Menschen in Harlem feierten, nachdem Joe Louis den Boxkampf gegen Max Schmeling gewonnen hatte. K.o. in der ersten Runde.
Der schwarze Boxer Louis hatte den Repräsentanten von Nazi-Deutschland auf die Bretter geschickt. Ein grosser Sieg für das schwarze Selbstbewusstsein. Und Harlem tanzte.
Hoffnung für einen langen Kampf
Daran muss Jamal Joseph denken, als er am 4. November 2008 nach Barack Obamas Siegesrede durch Harlem geht. Und natürlich denkt er an den langen Kampf um das Wahlrecht, um Bürgerrechte, an die vielen, die diesen Kampf nicht überlebt haben.
Er, der ehemalige militante «Black Panther», der für diesen Kampf zwölf Jahre im Gefängnis sass, und nun als Regisseur und Filmprofessor andere Mittel für den Kampf um gesellschaftliche Veränderung kennt, war überglücklich: «Diese Rede, die Barack Obama vor acht Jahren hielt, war einer der hoffnungsvollsten Momente meines Lebens.»
Rassismus liegt im System
Gleichzeitig war Jamal Joseph voller Sorge: «Denn ich wusste, dass der Rassismus in diesem Land tief verwurzelt ist. Er ist Teil des Systems, das Menschen ausbeutet. Wirkliche Lösungen finden sich nicht in diesem System. Denn es ist kaputt.» Und damit meint er das kapitalistische Amerika.
Die Wahl war ein Zeichen
«Ich denke, dass viele Leute, als Obama gewählt wurde, den Fehler gemacht haben zu glauben, dass wir nun den Traum verwirklicht haben, den amerikanischen Traum. Dabei war diese Wahl nur ein Ereignis, ein Zeichen. Denn es gibt noch immer Armut, es gibt noch immer Polizeigewalt, die Zahl von Massenverhaftungen ist gestiegen.»
Jamal Joseph sagt das ohne Groll. In seinen Augen funkelt der Stolz auf Obama als ersten afroamerikanischen Präsidenten, und gleichzeitig kritisiert er dessen Politik.
Mehr Druck von unten
«Ich habe gedacht, die Koalition von Obamas Anhängern würde stark genug sein, um mehr möglich zu machen. Dass fortlaufend immer stärkerer Druck von unten kommen würde, auch auf lokaler Ebene», sagt Jamal Joseph.
Obama wirkte ermutigend für viele Projekte und Initiativen, die sich während seiner Amtszeit bildeten, oftmals auch als Reaktion auf fehlende oder verfehlte Politik. Dass die Diskussion um Polizeigewalt gegen Afroamerikaner beispielsweise so vehement geführt werden konnte, ist Verdienst von Bewegungen wie «Black Lives Matter».
A wie Aktivismus
Jamal Joseph weiss, was Basisarbeit bedeutet. Vor 20 Jahren gründete er das «Impact Repertory Theatre». Die Idee ist einfach. «Das Theater bietet einen geschützten Raum, um das Potenzial von jungen Leuten zu entwickeln – als Geschichtenerzähler, Sänger, Tänzer, Poeten. So verbinden wir Kunst und Erziehung, um die Gesellschaft zu verändern», erläutert Jamal Joseph das Ziel des Projekts. Und: die Kinder sind weg von der Strasse, erleben Kunst als Stärkung ihres Selbstbewusstseins.
Wir besuchen eine Probe. «Bewegt euch. Und wenn ich sage, ‹das A steht für …› - dann bleibt ihr stehen. Freeze!» ruft Jamal Joseph. Zwölf afroamerikanische Jugendliche in Trainingsklamotten hören auf sein Kommando und bewegen sich kreuz und quer durch den Raum.
«Das A steht für?» – «Aktivismus», schreien die Jugendlichen und erstarren. Dann wird gesungen, getanzt, gerappt. Sie singen ihre eigenen Texte, beschreiben ihre Welt, performen in Theatern, in Schulen, um andere von ihrer Botschaften zu überzeugen.
Der Schrei einer Mutter
«Das Ganze begann vor 20 Jahren. Ich komme nachts nach Hause, nach Harlem, und treffe auf eine Frau aus meinem Haus, die schreit und weint. Ihr Sohn war auf einer Party ermordet worden, nach einem Streit, als er seine Schwester beschützen wollte. Ein anderer Teenager hatte ihn einfach erschossen.»
Die Mutter, völlig ausser sich, wurde von anderen Frauen getröstet – und die Männer standen abseits, hilflos. Jamal Joseph sieht sich und die Szene wie von ganz weit weg, wie ein Déjà-vu: Eine Mutter weint um ihr totes Kind. Jetzt in Harlem 1997. Es könnte aber auch Mississippi 1887 sein oder 1857. Nach einem Lynchmord. Oder in Südafrika, nachdem die Polizei jemanden exekutiert hat.
Träume ohne Verfallsdatum
«Wir müssen etwas dagegen machen. Ich will keine Mutter mehr weinen sehen um ihr totes Kind», denkt Jamal Joseph. Das war der Impuls, der zur Gründung des «Impact Repertory Theatres» führte. Seither haben sie mit hunderten Kindern und Jugendlichen gearbeitet.
Projekte wie das «Impact Repertory Theatre», Bewegungen wie «Occupy Wallstreet» oder «Black Lives Matter» sind die Zukunft, wenn die offizielle Politik zu wenig an gesellschaftlicher Veränderung bewirkt.
«Es gibt kein Startdatum für Bewegungen, und es gibt auch kein Verfallsdatum für Träume», meint Jamal Joseph. «Du kannst heute ein Aktivist werden. Und ein Traum bleibt so lange lebendig, wie Du an ihn glaubst.»
Ein Satz – der von Barack Obama stammen könnte.