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Wie einsam macht das moderne Leben?
Aus Sternstunde Religion vom 29.09.2024.
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Psychologin im Interview Astronauten haben kaum Probleme mit Einsamkeit – wie kommt das?

Immer wieder liest man von einer Einsamkeits-Epidemie. Davon, wie gesundheitsschädlich Einsamkeit ist. Ein Buch liefert Tipps von ungewohnter Adresse: aus dem Weltall. Denn der «Mann im Mond» ist – erstaunlicherweise – überhaupt nicht einsam.

«SRF-Sternstunden»-Moderatorin Olivia Röllin hat mit Psychologin Alexandra de Carvalho gesprochen – über die Psychologie des Weltraums und Tipps aus ihrer Arbeit mit Astronautinnen und Astronauten.

Alexandra de Carvalho

Weltraumpsychologin

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Alexandra de Carvalho ist psychologische Psychotherapeutin und forscht in dem noch jungen Feld der Weltraumpsychologie. Dabei untersucht sie, welche Gefühle Menschen in Extremumgebungen erleben, wie sich die Gruppendynamik während einer Mission verändern kann und welche Strategien gegen Langeweile im Raumschiff sinnvoll sind. Sie leitet seit 2015 das Team «Humane Faktoren» beim Österreichischen Weltraumforum und führt in verschiedenen Organisationen für Analogmissionen Auswahl- und Trainingsprozesse durch.

SRF: Die Nachricht ging um die Welt: Eine Astronautin und ein Astronaut sind derzeit im All gestrandet. Statt acht Tagen müssen sie mehrere Monate auf der Internationalen Raumstation ISS verbringen. Welchen psychischen Herausforderungen begegnen sie?

Alexandra de Carvalho: Die grösste Herausforderung ist der Umgang mit der Unkontrollierbarkeit. Beide hatten sicher Pläne auf der Erde, vielleicht einen Kindergeburtstag oder eine silberne Hochzeit. Die finden für sie nun nicht statt. Aber Astronauten sind sehr resiliente Menschen. Ihre Fähigkeit, sich anzupassen und auf Unvorhergesehenes zu reagieren, ist stark ausgeprägt. Die viele Arbeit, die bei solchen Missionen anfällt, hilft in der Regel, nicht ins Grübeln zu kommen.

Sie sind Weltraumpsychologin und bereiten Menschen für Missionen im All vor. Wie?

Wir führen Testmissionen auf abgelegenen Geländen durch, etwa in Armenien. Dabei simulieren wir eine Reise zum Mond oder Mars. Meine Aufgabe besteht darin, Menschen auszusuchen, die psychisch stabil genug sind, solche Missionen durchzuführen. Mit mir lernen sie, wie man mit Stress umgeht, wie man Konflikte in einer Gruppe löst, oder wie man einen Tag strukturiert, sodass eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit entsteht.

In Ihrem Buch schreiben Sie über Einsamkeit im All. Gibt es Berichte dazu, wie einsam sich Menschen dort fühlen?

Man würde ja vermuten, dass Menschen, so isoliert von der Erde, sehr einsam sind. Dort oben sind ja auch sehr wenige Menschen: im November vergangenen Jahres etwa gerade mal zehn Personen.

Einsamkeit ist im All viel weniger ein Problem als auf der Erde.

Das Gegenteil ist aber der Fall. Einsamkeit ist im All viel weniger ein Problem als auf der Erde. In den meisten Studien berichten Astronauten von anderen Stressoren: Etwa, dass es laut und ungemütlich ist, oder dass die Kommunikation zum Team auf der Erde nicht gut funktioniert.

Wie erklären Sie sich das?

Die Astronautinnen haben die Isolation freiwillig gewählt. Die Leute, die in einem Team ins All reisen, haben zusammen trainiert, ihre Interessen und Lebensstile sind ähnlich. Zudem sind sich Raumfahrtorganisationen bewusst, dass der Kontakt zur Familie und der Zuspruch der Liebsten schützende Faktoren sind. Deshalb werden regelmässig Videocalls eingeplant. Bei Mars-Missionen sähe das vermutlich anders aus.

Weshalb?

Mars-Missionen dauern lange, zwei bis drei Jahre. Und da man vom Mars die Erde nicht mehr sieht, verliert man auch den visuellen Bezug zum Heimatplaneten. Auch die direkte Kommunikation ist viel eingeschränkter, da die Übertragung des Signals bis zu 20 Minuten dauern kann. Man wäre also eher auf Chats als auf Videokommunikation angewiesen.

Thema Einsamkeit: Was können wir auf der Erde vom Leben im All lernen?

Es braucht nicht viele Menschen um einen herum, damit man sich nicht einsam fühlt. Vielmehr braucht man eine Gruppe, mit der man sich verbunden und in Resonanz fühlt.

Einsamkeit ist eine kollektive Angelegenheit, eine Aufgabe, der wir uns alle annehmen müssen.

Menschen sind aber auch nicht alleine dafür verantwortlich, ob sie sich einsam fühlen oder nicht, das ist eine kollektive Angelegenheit, eine Aufgabe, der wir uns alle annehmen müssen.

Das Gespräch führte Olivia Röllin.

Buchhinweis

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Alexandra de Carvalho: «Mission Fühlen. Was wir von der Weltraumpsychologie für unseren Alltag lernen können». S. Fischer, 2024.

SRF 1, Sternstunde Religion, 29.09.2024, 10:00 Uhr ; 

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