«Ich hatte nie einen Kinderwunsch», erinnert sich Sibylle. Zum Lebensentwurf ihres Partners hingegen gehörten eigene Kinder. Die beiden beschäftigten sich auf einer langen gemeinsamen Reise ausführlich mit dem «Projekt Kind». Danach fasste sie den Entschluss: «Ich schaffe das!»
Sibylle und ihr Mann gingen davon aus, dass die Liebe zum eigenen Kind ganz von selbst entstehen würde. Auch ohne expliziten Kinderwunsch.
Sibylle wurde schnell schwanger und erlebte eine unbeschwerte Schwangerschaft. Mit der Geburt ihres Sohnes, der per Kaiserschnitt entbunden wurde, kam die Schwere in Sibylles Leben: «Ich fühlte mich wie in einem Hamsterkäfig gefangen», erinnert sie sich.
Nach aussen mimte Sibylle die glückliche Mutter. Innerlich keimte ein Gefühl, das Sibylle nicht wirklich fassen konnte – ein Gefühl des Bereuens. «Manchmal stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn mein Kind sterben würde.» Es waren trübe Gedanken, welche die damals 34-Jährige quälten.
«Ohne Kind fühlte ich mich frei»
Sibylle fieberte dem Ende ihres Mutterschaftsurlaubes entgegen und spürte immer deutlicher, dass mit ihr «etwas nicht stimmte»: Während andere Mütter sehr emotional auf die Trennung von ihrem Baby reagierten, fühlte sich Sibylle bei der Arbeit befreit und genoss die physische Distanz zu ihrem Sohn. Sie merkte: «Ich habe mein Kind gern, aber ich hasse die Mutterrolle.»
Schon bald erhöhte sie ihr Arbeitspensum. Dies wurde möglich, nachdem sie sich ihrem Partner anvertraut hatte. Dieser unterstützte sie, indem er sein eigenes Pensum reduzierte und fortan im Homeoffice arbeitete.
Verunsichert von den belastenden Gefühlen, suchte Sibylle im Internet nach Erklärungen. Sie fand diese im Begriff «Regretting Motherhood» – die Mutterschaft bereuen. Diesen hatte die israelische Soziologin Orna Donath im Jahr 2015 mit ihrer gleichnamigen Studie geprägt.
Mit der Einordnung und der Benennung ihrer bis anhin diffusen Gefühle begann für Sibylle die Phase der Aufarbeitung: Um sich Klarheit zu verschaffen, verbrachte Sibylle drei Wochen Ferien allein – unterstützt und ermuntert von ihrem Mann. In dieser Zeit gelangte Sibylle zur schockierenden Einsicht: «Ich vermisse mein Kind nicht. Meinen Mann aber schon …»
Die eigene Mutterschaft zu bereuen, ist ein grosses gesellschaftliches Tabu. «Die Gefühlsregeln von Müttern sind extrem streng», sagt Psychotherapeutin Linda Rasumowsky, die in ihrer Praxis in Zürich regelmässig Mütter mit Reuegefühlen betreut.
«Eine Mutter muss immer glücklich sein, sie muss ihre Kinder lieben, ihre eigenen Bedürfnisse immer hintanstellen und von der Mutterrolle erfüllt sein – egal, unter welchen Bedingungen sie sich durchs Leben schleppt.» Noch immer werde unser Mutterbild extrem idealisiert, moniert Rasumowsky.
Linda Rasumowskys Klientinnen seien oft «automatisch» in die Mutterrolle gerutscht, auch wenn sie – wie Sibylle – gar keinen Kinderwunsch hatten. Die gesellschaftliche Übereinkunft, dass zum Leben einer «normalen» gesunden Frau ein Kind gehöre, liess diese Klientinnen entgegen ihrer eigentlichen Überzeugung Kinder gebären. Ein «kinderfreies» Leben gelte immer noch als Ausdruck von Egoismus, sagt Linda Rasumowsky.
Regretting Parenthood ist verbreitet
Das Gefühl, die eigene Mutterschaft zu bereuen, ist für betroffene Frauen zwar mit grosser Scham und immensen Schulgefühlen behaftet, laut Studien aber alles andere als selten.
In einer repräsentativen Studie aus Deutschland gaben 19 Prozent der Mütter und 20 Prozent der Väter an, dass sie keine Kinder mehr haben würden, wenn sie das Rad der Zeit zurückdrehen könnten.
Regretting Fatherhood ist dieser Studie zufolge also noch leicht häufiger als Regretting Motherhood, gesellschaftlich aber weniger tabuisiert als die weibliche Variante.
«Wenn Männer ihre Vaterschaft bereuen, verlassen sie die Familie wohl einfach», vermutet Sibylle. Auch sie hatte sich diesen Schritt überlegt, ihn aber nicht gemacht. «Hätte ich die Familie verlassen, dann hätte unser Kind seine Mutter verloren, mein Mann seine Frau und ich meinen Mann, den ich doch über alles liebe», erinnert sie sich.
Als Familie überleben
Sibylles Partner Martin war schockiert, als er von den Reuegefühlen seiner Frau erfuhr. «Es ist unschön, aber man kann es nicht ändern», sagt er lakonisch.
Martin schlüpfte mehr und mehr in eine «Mutterrolle», während sich Sibylle in Freizeitbeschäftigungen flüchtete, die landläufig eher Vätern zugeschrieben werden: Sie unternahm Zoobesuche oder Campingwochenenden mit ihrem Sohn, während ihr Mann mit ihm zu Hause Lego spielte.
Fragen stelle ihr heute neunjähriger Sohn nicht, aber bisweilen hätte er schon gern «mehr Mami», erklärt Martin. Er sei aber überzeugt davon, dass ihr Kind keinen Schaden nehme, denn es wachse in einem sehr behüteten Umfeld mit vielen nahen Bezugspersonen auf.
Sibylle liegt das Wohlergehen ihres Kindes ebenfalls am Herzen. Mit den Schuldgefühlen ihrem Sohn gegenüber hat sie einen für sie stimmigen Umgang gefunden. Wichtig sei ihr, authentisch und ehrlich mit ihrem Sohn zu sein, ohne ihn zu überfordern.
«Ich sage ihm oft: ‹Ich habe dich mega gern› oder ‹ich bin wahnsinnig gern mit dir zusammen› oder auch ‹du bist ein wunderbarer Mensch und sehr wichtig für mich›.» Ihr «Ich liebe dich!» ist allerdings ihrem Partner vorbehalten.
Sibylle erzählt ihre Geschichte, um sich mit anderen Betroffenen zu vernetzen. So könne man einander unterstützen. Denn es helfe einer Betroffenen schon, wenn sie wisse, dass sie nicht allein sei mit ihren tabuisierten Gefühlen, sagt Sibylle.
Akzeptanz ist wichtig
Auch Psychotherapeutin Linda Rasumowsky ermuntert Frauen dazu, sich über ihre Reuegefühle auszutauschen: Einen Begriff zu haben und zu wissen, dass es das Phänomen «Regretting Motherhood» gibt, könne es erleichtern, eine hilfreiche und notwendige Gefühlsbewältigung anzugehen.
Dazu gehöre es, dass betroffene Frauen Reuegefühle nach der Geburt ihres Kindes ernst nehmen, rät Linda Rasumowsky. Denn so beglückend die Geburt eines Kindes bei den meisten Frauen sei, bedeute sie trotzdem auch immer einen Abschied von einem früheren Leben, von Autonomie und Spontaneität oder von Erwachsenenfreundschaften.
Mehr Raum für sich
Schlimmstenfalls komme es mit der Geburt des eigenen Kindes zu einem tiefgreifenden Identitätsverlust: Viele betroffene Frauen fühlten sich nicht mehr wie eine entwickelte Form von sich selbst, sondern überhaupt nicht mehr wie sie selbst, erklärt Linda Rasumowsky.
Dieser Trauer gelte es, Raum zu geben und sich dann zu fragen, in welchen Lebensbereichen sich Betroffene wieder mehr Raum für die eigene Persönlichkeit schaffen könnten: Natürlich könne eine Mutterschaft nicht rückgängig gemacht werden. Aber das Wohlbefinden betroffener Frauen könne gesteigert werden, sagt die Psychotherapeutin.