Ich bin Jahrgang 1961. Wenn ich mich in meine Kindheit zurückversetze, erinnere ich mich an die Zeit der klassischen Rollenverteilung. Mein Vater gab den Tarif durch. Für alle. Ohne Diskussion.
Meine Mutter, wie alle Frauen im Dorf, trug Schürze, hielt immer eine Melitta-Kanne Kaffee bereit, (be-)diente, kochte Fleisch mit Sosse. Die Spassbremse Cholesterin kam später. Die Rollen waren definiert. Es gab in unserer Familie nur einen, der aus der Reihe tanzte.
Emanzipiert ohne ideologischen Überbau
Mein Onkel blieb nach einem schweren Herzinfarkt mit Anfang vierzig zu Hause und machte die Hausarbeit. Man raunte: «ein Hausmann». Das schien schlimmer zu sein als sein Herzinfarkt.
Das Wort «emanzipiert» kam später. Dass sich der Mann dank(!) Herzinfarkt emanzipiert hatte, kam niemanden in den Sinn. «Hausmann» war ein Widerspruch in sich und der Mann im Haus im falschen Biotop.
Keine heilige Instanz in der Frauenfrage
Ich erinnere mich an den katholischen Priester, der uns Messdienern im Sommer gerne unter den Messdienerrock fasste: «Kratzt das nicht an den nackten Beinen?» und der meinte, die eigentliche Krone der Schöpfung seien Männer. «Frauen sind unrein und müssen einmal im Monat aufs Feld stehen und die Unreinheit ausbluten lassen», zitierte unser Pfarrer gerne einen Kirchenvater.
Bei gemeinsamen Spaziergängen um einen See zusammen mit einem befreundeten Paar gingen die Männer immer vorneweg, mit Abstand folgten die Frauen. Die hatten’s lustig. Ich fragte, wann sie aufs Feld stehen. Die lachten sich tot, als ich sagte, das hätte der Pfarrer erzählt. Ab da wurde ich misstrauisch, was die Zuständigkeit von Priestern in Frauenfragen angeht.
Mannsein war vor allem Krampf, Leistung, Bluffen und keine Ahnung haben.
Bei den Männern ging’s nicht lustig zu, sondern sachlich. Mannsein hiess: stark sein, sich durchsetzen, nicht weinen.
Für unsere Pubertät kam der Aufklärungsunterricht zu spät. Wir hatten das hinter den Müllcontainern auf dem Schulhof selbstorganisiert erledigt: Ein älterer Klassenkamerad, zweimal sitzen geblieben, gab da Tipps und Tricks zum Besten, so wie heute in der Serie «Sex Education», verteilte Patentex Oval und gab uns einen Einführungskurs. Wir wollten gute Liebhaber sein. Mannsein war vor allem Krampf, Leistung, Bluffen und keine Ahnung haben.
Die Grenzen des frauenbewegten Mannes
Späte 1970er-Jahre. Natürlich wollte ich kein «Pascha» sein wie mein Vater. Ich wurde ein frauenbewegter Mann, las die «Emma», Frauenliteratur von Silvia Plath, Virginia Woolf, Gabriele Wohmann bis Karin Struck und scheiterte beim Versuch, einen Frauenbuchladen zu betreten. Tage später stand ein selbstgemaltes Schild vor dem Laden: «Männer müssen draussen bleiben.» Schade.
Die klassische Rollenverteilung fand ich ungerecht. Warum soll eine Frau für die gleiche Arbeit weniger verdienen? Gleichberechtigung der Frau hiess logischerweise, meine Rolle als Mann anders zu definieren als mein Vater. Und so schlitterte ich Jahre später in etwas hinein, für das ich keine Erfahrungswerte hatte.
«Moderner Vater»? Nein, pragmatisch!
Als unser erster Sohn geboren wurde, wurde ich Hausmann. Meine Frau verdiente in deutlich weniger Zeit deutlich mehr als ich als Theaterregisseur an mittelgrossen Stadttheatern. Ich war nicht ruhmreich emanzipiert. Es lohnte sich nur einfach nicht.
Tagsüber war ich der einzige Mann unter Müttern auf dem Spielplatz und wurde ein «moderner Vater». Nach Feierabend kamen die anderen Väter. Sie hatten grosse Siege errungen, ich hatte Hintern geputzt.
Sie fanden es «lääääässig» – ich hasse dieses «lässig» mit fünf «ä» –, dass ich da bin, «wo sich die wirklich wichtigen Dinge im Leben abspielen». «Ja wenn die Dinge so wichtig sind, warum seid ihr dann nicht da?» – «Ich kann’s mir nicht aussuchen.» Das waren die Dialoge bei Light-Zigaretten.
Die Büro-Väter führten mit den Frauen sofort sachverständige Gespräche über Koliken, Phasen und die Schäden, «die das bewirken kann, wenn das Kind im elterlichen Bett schläft». «In Wahrheit macht euch der Wurm den Platz streitig», habe ich mir gedacht. Status war ihnen extrem wichtig. Einmal kam die Frage, wie es mir denn gehe, wenn mir meine Frau Geld zum Einkaufen gibt.
«Ich habe Geld, also bin ich»
Ich habe mir häufig gesagt: «Jetzt lernst du, wie es Frauen seit langem geht.» Das kratzte am Selbstwert, als gelte die Descartes’sche Regel neu: «Ich habe Geld, also bin ich.»
Als ich mich nach zwei Jahren daran gewöhnt hatte, dass wir die Ernährerrolle getauscht hatten, fragten die emanzipiertesten Frauen in unserem Umfeld meine Frau, ob sich das nicht aufs Bett auswirke. Die Antwort muss ich hier schuldig bleiben. Diskretion.
In meinem Alltag sind Geschlechterzuschreibungen aufgelöst: Stärke, Empathie, Tränen, Durchsetzungsfähigkeit sind für mich keinem Geschlecht zugeordnet.
In dieser Zeit waren die Rollenmuster aufgebrochen, das Männerbild und die Erwartungen wurden vielfältiger. Die klassischen Vorstellungen existierten weiter, als müsse Mann beides sein: retro und modern. Bei den Frauen genauso.
In den 2010er-Jahren versuchten Mütter wie Väter, alles unter einen Hut zu bringen. Es ging zwischen den Geschlechtern klassisch und weniger klassisch zu. Mit welcher Art Frau oder Mann hatte man es zu tun? Das musste mehr und mehr ausgehandelt werden und war Freiheit und Selbstbestimmung. Wenn man schon müde war, war es eine Last.
Beruf und Familie: eine einzige Erfolgsstory?
Das Gebot, als Mann Erfolg zu haben, erreichte das Private: Auch Familie und Partnerschaft mussten «rund laufen».
Familienfotos wurden als Weihnachtsgrüsse verschickt: Alle strahlten in Kameras. Beruf und Familie – eine einzige Erfolgsstory. Ein Mann sagte mir damals, am meisten Angst habe er, seiner Frau zu sagen, dass es «im Beruf beschissen läuft» und er zu Hause die Fassade wahren müsse.
Einiges schien faul um mich herum. Bei einigen Paaren in meinem Bekanntenkreis flog in der Zeit der Mittvierziger- und Anfangsfünfziger-Krise jede Menge Geschirr. Das begann damit, dass sich die Männer schwere Motorräder kauften. Der Ruf der Freiheit und des Abenteuers hatte sie wieder ereilt, sie wurden Jäger und Ritter, zogen aus der ehelichen Wohnung aus und bald sass eine Jüngere hinten auf dem Motorrad.
Ich fand die Vorstellung immer seltsam, als alter Sack mit einer halb so alten Frau zusammen zu sein. Ich dachte mir: Die sitzt doch am nächsten Morgen mit meinem ältesten Sohn im Proseminar über Nabokovs «Lolita».
Hier endet der Erinnerungsteil.
Wann ist der Mann ein Mann?
Wenn ich reflektierend über 60 Jahre Mannsein schreibe, dann ist Mannsein für mich kein absoluter Begriff, der im Singular auftritt und zeit eines Lebens unverändert gilt. Die Frage ist: Wann hat Mannsein in welcher Lebensphase für mich was bedeutet? Allein von der klassischen Rollenverteilung in einem gleichberechtigten Miteinander anzukommen, war ein Haufen Arbeit.
Wenn einem die Sorgen meterhoch und frontal entgegenkommen, gibt’s nur eines: dem Alltag in Notwehr begegnen.
Zu meiner Überraschung merke ich jetzt, dass ich – zwischen 30 und 50, verheiratet, drei Kinder in Ausbildung – mindestens zehn Jahre lang nicht dazu gekommen bin, über's Mannsein nachzudenken. Es gab im Alltag Wichtigeres. Wie die Frage: «Wer geht an den Elternabend?» Die / der, die / der Zeit hat.
Die Rollenverteilung wurde zum geschlechtslosen Schrägstrich. Wenn einem die Sorgen meterhoch und frontal entgegenkommen, gibt’s nur eines: dem Alltag in Notwehr begegnen.
Mängelliste Mann
Was mir noch auffällt, ist, dass in meiner Kindheit und Jugend Männer waren, wie sie eben sind. Heute gibt’s das so nicht mehr, «der Mann» als homogene Kategorie. Mir scheint, seit 15 Jahren wird «der Mann» als Mängelliste bewirtschaftet unter Überschriften wie: der «verwirrte Mann», der «überforderte Mann», der «ermüdete Mann», der «toxische Mann».
Wow! Die Beraterszene reibt sich die Hände. Ich finde das Unsinn. Heutzutage überfordert und müde zu sein, ist die normalste, gesündeste Reaktion und kein Defizit, denn:
Als Mann soll man heute zielstrebig, durchsetzungsstark, empathisch, locker, ausgeglichen, kreativ, kommunikativ, finanzkräftig sein, emotionale Kompetenz besitzen und ein guter Partner und Vater sein.
Ich bin nicht ein Mann, sondern viele.
Nochmal: «Wow, und darf’s sonst noch was sein?» Da bin ich doch freitags schon müde, logisch, und das dicke Ende, das Wochenende, kommt erst noch. Und seitdem alle erreichbar sind und seit Corona im Homeoffice die Kinder quer durch Meetings laufen, müssen die Verhaltensweisen blitzschnell gewechselt werden. Ich bin nicht ein Mann, sondern viele.
Mannsein? Menschsein!
Heute kann ich sagen, dass ich mit einer Art Mannsein sowieso nicht durchs Leben gekommen bin. Als Vater und Ehepartner wollte ich mich anders verhalten können als im Büro, das war mein Anspruch. Also ist die Frage eher: Was für ein Mann bin ich in welchem Kontext?
Und eine Sekunde später denke ich: Führen mich die Geschlechterzuschreibungen überhaupt noch weiter? In meinem Alltag sind sie aufgelöst: Stärke, Empathie, Tränen, Durchsetzungsfähigkeit sind für mich keinem Geschlecht zugeordnet. Sie stellen sich individuell unterschiedlich dar.
Und so denke ich seit Jahren nicht mehr übers Mannsein nach, sondern übers Menschsein. Mein Menschsein umfasst mehr als mein Mannsein. Letzteres ist Teil meiner Identität – aber nicht alles. Von daher gehe ich jetzt kochen. Ich habe Hunger. Die anderen wahrscheinlich auch. Ich frag’ mal.