Geheimnisvolle blaue Augen – verborgen hinter einer Reihe baumelnder Tierzähne. Das Gesicht umrahmt von zwei riesigen Wildschweinhauern: Die Schamanin von Bad Dürrenberg auf dem Cover des neuen Sachbuchs der Erfolgsautoren Harald Meller und Kai Michel ist ein Blickfang. Für eine Fantasiegeschichte? Paläokitsch? Mitnichten!
Der Klappentext verspricht einen Krimi erster Güte. Zusammen mit Coverbild und Titel, ist das ein starker Anreiz, «Das Rätsel der Schamanin» in die Hand zu nehmen. Dass man es dann tatsächlich zu Ende liest, ist dem besonderen Stil des Autorenteams zu verdanken.
Die Nazis hofften auf einen «Urgermanen»
Mit «Based on a true story» überschreiben sie die Geschichte einer Schamanin, die 9000 Jahre lang in ihrem Grab lag, bis die Nazis sie 1934 im Kurpark von Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt ausbuddelten. Das bisher unbekannte Grab kam einer neuen Wasserleitung in die Quere.
Die Nazis beurteilten den Fund als «spektakulär», weil sie die Leiche für einen weissen, blonden, alten Mann hielten und damit ihre Ideologie eines Urgermanen und dessen rassischer Überlegenheit dokumentieren wollten.
Sie irrten sich. Oder vielleicht logen sie auch bewusst, immerhin waren es Wissenschaftler und keine Laien, die den Fund beurteilt haben. Die Leiche entpuppte sich jedenfalls Jahre später als zirka 35-jährige Frau.
Diese hatte zwar tatsächlich blaue Augen, ihre Haut war aber dunkelpigmentiert und die Haare schwarz. Das ist typisch für die Ureinwohner der Region, keine Spur von «Urgermanen». Die Hellhäutigkeit brachten einwandernde Bauern aus Anatolien nach Mitteldeutschland – da lag die Schamanin schon 1500 Jahre in ihrem Grab.
Missbrauch der Wissenschaften
Man kommt nicht darum herum, zusammen mit den beiden Autoren die leise Ironie dieser Geschichte zu registrieren. Doch vor allem ist dieser «cold case» – wie die beiden ihn nennen – Beispiel eines «eklatanten Missbrauchs» der Wissenschaft für ideologische Zwecke.
Der Missbrauch durch die Nazis wird ausführlich aufgerollt und ist spannend zu lesen. Er bleibt nicht der einzige Missbrauch: Zahlreiche ähnliche Fälle ziehen sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch.
Immer wieder haben sich Wissenschaften – nicht zuletzt die Ethnologie – für politische Zwecke instrumentalisieren lassen: zum Beispiel für die russische Kolonialisierungspolitik in Sibirien, der zahlreiche Schamanen und Schamaninnen zum Opfer gefallen sind.
Sorgfalt und Spürsinn
Allerdings wird im Buch nicht nur dekonstruiert – oder wie die Autoren schreiben: «bedenklicher Zivilisationsschutt beiseitegeräumt». Tatsächlich fördern Harald Meller und Kai Michel mit archäologischer Sorgfalt und detektivischem Spürsinn unter diesem «Zivilisationsschutt» viel Neues hervor.
So können sie inzwischen selbstbewusst behaupten, sie hätten das weltweit älteste Grab einer Schamanin gefunden: Das Grab einer verehrten Frau, die weithin bekannt gewesen sein muss.
Die beiden Autoren kommen gemeinsam mit Anthropologinnen, Paläogenetikern und Restauratoren nach neuesten wissenschaftlichen Methoden zu teilweise fantastisch anmutenden Behauptungen.
Wie sie diese aufstellen und untermauern, sei hier ebenso wenig verraten wie das Geheimnis des Säuglings, der mit der Schamanin im Grab lag. Dazu nur so viel: Das Buch ist spannend.