Lesezeit: 10 Minuten
Ein kleiner Waldabschnitt unweit der Autobahn. Hier schläft eine Gruppe von rund 30 Eritreern. Einige im Zelt, andere nur im Schlafsack. In den Bäumen hängen Jacken und Decken zum Trocknen. Letzte Nacht hat es geregnet.
Die Männer und wenige Frauen leben draussen. Der Kälte ausgesetzt, in der Hoffnung, irgendwie nach England zu gelangen und in ständiger Angst vor der Polizei. «Weisst du, was der Unterschied zwischen dir und mir ist?», fragt Immanuel*. «Du gehst pro Tag eine Stunde raus, um Sport zu treiben. Ich aber mache 24 Stunden am Tag Sport. Ich bin Spitzensportler.»
Drei Jahre auf der Flucht
Immanuel, 24 Jahre alt, ist kein Spitzensportler, aber ein junger Mann mit einem düsteren Sinn für Humor und einem exakt getrimmten Bart. Vor drei Jahren ist er aus Eritrea geflüchtet und noch immer nirgendwo angekommen. Hier in Calais, sagt er, sei er ständig auf der Hut vor den CRS (Compagnies républicaines de sécurité), der Eliteeinheit der französischen Polizei.
Die Haltung der Behörden ist klar: Illegale Migration wird nicht toleriert und ein neuer «Dschungel» soll verhindert werden. Im sogenannten «Dschungel von Calais» lebten bis vor einem Jahr tausende von Migranten und Migrantinnen in der Hoffnung, es irgendwie über die Grenze nach England zu schaffen.
Nun setzen die Behörden auf Repression, um die Bildung neuer illegaler Camps zu verhindern.
Wenn Schlagstöcke zum Einsatz kommen
Dabei greifen die CRS zu fragwürdigen Mitteln. Im Juli 2017 veröffentlicht die Menschenrechtsorganisation «Human Rights Watch» einen Bericht über die gegenwärtige Lage der Migranten in Calais.
Die Menschenrechtsorganisation wirft den CRS vor, mit Tränengas gegen schlafende Migranten vorzugehen und deren Eigentum zu konfiszieren oder zu zerstören: Schlafsäcke, Decken und Zelte.
Grundsätzlich würden die CRS mit übermässiger Gewalt gegen die Migranten vorgehen. Zum Beispiel, wenn Schlagstöcke zum Einsatz kommen.
Auch der französische Obmann für Bürgerrechte beklagt, dass es in Calais zu «Grundrechtsverletzungen von aussergewöhnlicher Schwere» käme.
Zunächst wiesen die Behörden in Calais die Vorwürfe als «verleumderisch und erlogen» zurück. Nun aber ist auch ein Bericht des Innenministeriums zum Schluss gekommen, dass gewisse Vorwürfe «plausibel» seien und dass es «möglicherweise zu Fehlverhalten gekommen» sei.
Sicherheit und Ordnung
Michel Tournaire ist der Unterpräfekt von Calais. In seinem Büro hängen Bilder von Präsident Emmanuel Macron und von Napoleon. Er wolle den Bericht des Innenministeriums nicht kommentieren.
Nur so viel: Bei der Räumung der illegalen Camps würden den Migranten keine persönlichen Gegenstände weggenommen, «aber wissen Sie, wenn wir so ein Camp räumen, dann gibt es dort Decken, die tagelang im Regen waren und nicht in einem guten Zustand sind. Es ist dann für die Beamten schwierig zu entscheiden, ob es sich um Abfall oder um einen persönlichen Gegenstand handelt».
Tournaire weist darauf hin, dass ungefähr 100 Kilometer von Calais entfernt Empfangszentren für die Migranten bereitstünden. «Letztlich haben die Migranten, die hier in Calais sind, eine Wahl getroffen», sagt er. «Sie wissen, dass es hier kein Empfangszentrum gibt. Aber sie kommen trotzdem.»
Sie wollten illegal nach England, und das würde nicht toleriert. «Wir wenden geltendes Recht an, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und die illegale Migration zu bekämpfen», meint Tournaire. «Auch zum Schutz der Migranten selber.»
Menschenrechte mit Füssen treten
«Zu behaupten, die CRS seien zum Schutz der Migranten hier, ist zynisch. Wir sehen täglich, dass das Gegenteil der Fall ist», sagt Charlotte. «Menschenrechte gelten per Definition für alle Menschen, unabhängig von ihrem rechtlichen Status.»
Die junge Frau trägt eine graue Kappe und einen warmen Mantel. In Paris studierte sie Rechtswissenschaften. Jetzt steht sie in der «L’Auberge des Migrants», einer riesigen Lagerhalle im Industriegebiet von Calais. Drinnen ist es kühl.
Hier organisieren sich die freiwilligen Helferinnen und Helfer. In der Lagerhalle werden Kleider sortiert, Holzscheite für die Feuer in den Camps gesägt, warme Mahlzeiten zubereitet, bis zu 3000 Portionen pro Tag. Zum Beat von Technomusik rüsten, schnipseln und kochen rund 30 Freiwillige.
Gibt es eine Sogwirkung?
Die Mahlzeiten werden zweimal am Tag an die Geflüchteten verteilt – sehr zum Unmut der Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart. Sie wirft den freiwilligen Helferinnen und Helfern vor, dass sie den Schleppern in die Hände spielten und dass die Flüchtlinge deswegen nach Calais kämen. Weil sie wüssten, dass sie hier auf die Unterstützung von Helfern und Helferinnen zählen könnten.
«Darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Die Geflüchteten kommen nach Calais, weil sie nach England wollen, und nicht, weil wir ihnen eine Decke geben», meint Charlotte. «Mit oder ohne freiwillige Helfer oder Helferinnen, die Flüchtlinge kommen sowieso.»
Deswegen fordern NGO, Freiwillige und Kirchen schon lange ein Empfangszentrum in Calais. Für die Behörden aber kommt das nicht in Frage, sie fürchten eine Sogwirkung.
Notunterkünfte bleiben leer
Nur wenn die Temperaturen unter null Grad fallen, öffnen die Behörden die Notunterkünfte. Ansonsten bleiben sie geschlossen – und leer. Die Anziehungskraft von England aber bleibt – mit oder ohne Empfangszentrum. Die Gründe dafür sind vielfältig. Viele Migranten und Migrantinnen wollen nach England, weil dort Familienmitglieder sind.
Rashid aus Afghanistan etwa. Er ist ein Teenager – kaum Bartwuchs, kindliche Gesichtszüge. «Hier bin ich ganz alleine, aber in England lebt ein Onkel von mir.» Auch der 24-jährige Salim meint: «Was glaubst du, warum ich das hier alles in Kauf nehme? Ich will zu meiner Familie.»
Abtauchen in die Illegalität
Gewisse Migranten wollen nach England, weil sie bereits Englisch sprechen. Auch werden in England mehr Asylanträge positiv beurteilt als in Frankreich. Andere haben bereits einen negativen Asylentscheid erhalten und müssten eigentlich in ihr Herkunftsland zurückkehren.
Stattdessen aber tauchen sie ab und leben in der Illegalität. Da es in England für Arbeitgeber keine Meldepflicht gibt, erhoffen sich viele, dass es einfach sei, eine Arbeit in England zu finden. Auch ohne gültige Papiere.
Klares Ziel vor Augen
So lassen sich die Männer und Frauen, die teilweise eine mehrjährige Fluchtgeschichte haben, kurz vor dem Ziel nicht mehr abschrecken.
Sie alle sind in Calais gestrandet, an einer Binnengrenze in Europa – mit einem klaren Ziel vor Augen: England. Doch es scheint auch, als irrten hier Leute an den Rändern dieser Stadt umher, als gäbe es keinen Platz für sie. Nirgendwo.
Und die Frustration wächst. Vor drei Wochen ist es zu heftigen Zusammenstössen zwischen Schleppern und Eritreern gekommen. 14 Verletzte mussten ins Spital gebracht werden.
Mitfühlender Pragmatismus
Knapp zwei Zugstunden von Calais entfernt liegt Grande-Synthe. Eine kleine Stadt direkt am Atlantik. Ihr Bürgermeister ist Damien Carême. Er hat einen anderen Weg gewählt, um mit der Flüchtlingsproblematik umzugehen.
Schon seit der Jahrtausendwende gab es immer wieder Flüchtlinge, die sich auf seinem Gebiet aufhalten. Sie sind auf Durchreise nach England und bleiben höchstens ein bis zwei Tage auf einer nahe gelegenen Raststätte.
Als im Winter 2008 das erste Mal auch Frauen und Kinder kamen und draussen übernachteten, reagierte Damien Carême sofort. Er stellte ein grosses, geheiztes Zelt auf. «Es war bitterkalt und in meiner Stadt sterben keine Menschen, weil sie erfrieren. Punkt.»
Widerstand der Behörden
Damit begann der Ärger mit seinen Vorgesetzten. Der Präfekt, der oberste Verwaltungsbeamte der Region, verlangte, dass das Zelt wieder abgebaut werde – man würde damit den Schleppern in die Hand spielen und es drohe eine Sogwirkung.
«Das ist Quatsch. Die Leute kommen hierhin, weil wir hier nahe der Grenze zu England sind», sagt Carême. «Nicht die geheizten Zelte spielen Schleppern in die Hände, sondern geschlossene Grenzen.» Er blieb standhaft.
Als Bürgermeister sei er allen Leuten in seiner Stadt verpflichtet. Und die Befürchtungen des Präfekts seien nicht eingetroffen. Dann kam der Sommer 2015.
Höhepunkt der Krise
Die Flüchtlingskrise erreichte dann auch Grande-Synthe. Innerhalb kürzester Zeit waren plötzlich über 500 Geflüchtete vor Ort. Zusammen mit Médecins Sans Frontières entschied sich Carême, ein Flüchtlingscamp nach UNHCR-Normen zu bauen – wieder gegen den Willen seiner Vorgesetzten.
Diese behinderten seine Bemühungen, machten ihm viele Vorschriften. «Zur Sicherheit der Flüchtlinge, betonten sie», sagt Carême. Er muss lachen: «Plötzlich lag ihnen etwas an der Sicherheit dieser Leute. Als ich dann alle Vorschriften eingehalten hatte, hiess es von Seiten des Präfekts, es gebe trotzdem keine Unterstützung von ihnen.»
Ein Camp platzt aus allen Nähten
So baute Damien Carême auf eigene Faust ein Flüchtlingscamp aus Holzhütten. «Alles lief gut, bis in Calais der ‹Dschungel› geräumt wurde und viele Bewohner des ‹Dschungels› bei uns Zuflucht suchten», erzählt Carême. «Plötzlich platzte unser Camp aus allen Nähten.» Die Spannungen im Camp wuchsen. Als Carême den Präfekten um Hilfe bat, meldete sich dieser nicht.
Im April 2017 brannte das Camp ab. Ein Streit zwischen Bewohnern war ausser Kontrolle geraten. Vorübergehend sind die Leute jetzt in einer Turnhalle untergebracht.
«Ich suche nach einer neuen Lösung», versichert Carême. «Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass wir genug Platz haben und dass es unsere Pflicht ist, den Menschen auf der Flucht eine würdige Unterkunft zu bieten.»
* Name der Redaktion bekannt