«Sitz ruhig hin!» Ein Satz, den man in der 8. Klasse von Tim Schwander im Schulhaus Spitalacker im Berner Breitenrain nicht oft hört. Denn auch im Mathematik-Unterricht ist Bewegung erlaubt, sogar erwünscht.
Der Lehrer baut aktive Bewegungspausen in den Unterricht ein. Die Schülerinnen und Schüler spielen dann Hacky Sack oder reichen einen Ballon im Klassenzimmer umher.
«Zum jetzigen Zeitpunkt kommt das den Jungs noch mehr entgegen, aber auch die Mädchen haben einen Bewegungsdrang», weiss Tim Schwander. Obwohl man das schon seit Jahren immer wieder hört, wird der Unterricht in vielen Schulen nur sehr langsam – wenn überhaupt – auf dieses Bedürfnis der Jungs angepasst, wodurch sie in dieser Hinsicht benachteiligt bleiben.
Da Männer aber schliesslich nicht benachteiligt sind, scheint sich auch das Mitleid mit den Jungs in Grenzen zu halten.
«Oh, die armen Buben»
Die Reaktionen auf das Thema, dass Jungs in der Schule benachteiligt sein könnten, sind häufig ironisch bis zynisch: «Oh, die armen Buben», heisst es dann etwa. Mann wird subtil bis nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Frauen und Mädchen in den letzten Jahrhunderten benachteiligt wurden. Und schliesslich auch heute noch viele strukturelle Benachteiligungen erleben.
Eine solche Reaktion, die Jungs oder Männern eine Benachteiligung abspricht, oder ihnen gar ein Gejammer unterstellt, ist Teil des Problems – aus zwei Gründen.
Erstens: Es bringt niemanden weiter, wenn man ein Leid gegen das andere aufwiegen will – oder sogar ein Leid bestehen lassen möchte, weil ein anderes noch immer nicht ganz eliminiert wurde. Zweitens: Die Reaktion «Oh, die armen Buben» impliziert, dass ein Mann – oder ein Junge – sich nicht beklagen soll und keine Benachteiligung erleben darf. Die Opferrolle und das Jammern sei vornehmlich weiblich belegt.
Jungs wollen cool sein
Die Gender-Thematik schwingt aber immer mit, zumindest unbewusst. Besonders bei Kindern ist das der Fall. In der Schule kann das für einen Jungen bedeuten, dass er zwar gerne liest und Geschichten schreibt, aber dass ihn die stereotype Vorstellung, dass Jungs nicht gleich gut wie Mädchen lesen oder schreiben können, unter Druck setzt.
Der sogenannte «Stereotype Threat» führt im Extremfall dazu, dass der Junge seine Neigung nicht frei auslebt, seine Leistung sinkt und er anfängt, Lesen und Schreiben «uncool» zu finden – und dass er obendrauf von seinen Mitschülern als «nicht männlich» taxiert wird. Die Mädchen werden selbstverständlich auch von solchen Stereotypen bedroht.
Christa Kappler, Bildungsforscherin an der PH Zürich mit dem Spezialgebiet «Gender», kennt auch einen Zusammenhang mit altmodischen Einstellungen: «Traditionelle Vorstellungen von Geschlechterrollen führen zu signifikant schlechteren Schulnoten.» Junge Männer hingen diesen Vorstellungen noch mehr nach als junge Frauen.
Ein strukturelles Problem
Die Kinder können wenig dafür. Es sind vor allem die Eltern, die Gesellschaft und die Strukturen, die dieses Problem verursachen. Schon bevor Kinder in den Kindergarten kommen, haben sie den Eindruck, dass Jungs schlechter in der Schule sind und nicht stillsitzen können.
Der Nachwuchs glaubt dies, weil das explizit oder implizit vermittelt wird. Nicht, dass die Eltern das ihren Kindern aktiv eintrichtern würden. Das passiert ganz nebenbei.
Die biologischen Unterschiede
Die Biologie spielt auch eine Rolle: Jungs weisen eine höhere motorische Aktivität auf als Mädchen. Dies ist eine Erkenntnis, die das Fachbuch «Die kindliche Entwicklung verstehen» des Kinderarztes Oskar Jenni beschreibt.
Stillsitzen ist für Jungen schwieriger als für Mädchen. Kommt hinzu, dass Buben im Schulalter einen Entwicklungsrückstand gegenüber Mädchen haben. Die kognitive Selbstregulation ist tiefer, ebenso die Lern- und Leistungsbereitschaft. Doch damit nicht genug.
Die Schule ist weiblich
Auch liegt die Vermutung nahe, dass die in der Schule geforderten Verhaltensweisen als weiblich konnotiert wahrgenommen werden. Ein Umstand, der die Motivation der Jungs nicht steigert. Wer sich nicht akzeptiert und gesehen fühlt, der verstärkt sein stereotypisches Verhalten im schlimmsten Fall.
Zudem fehlen die männlichen Vorbilder. Insbesondere in den unteren Schulstufen sind die Lehrerinnen in der Überzahl. Dabei würden den Jungs männliche Lehrpersonen guttun. Nicht, weil die Frauen die Knaben benachteiligen würden, sondern für die männliche Interaktion, abseits des Schulstoffes.
Das klingt sehr stereotyp, ist aber eine Realität, wie Christa Kappler ausführt. «Jungs wollen eher stören und haben auch mehr schulnegative Einstellungen.» Woher das kommt, könne man sich fragen, so Kappler: «Ist Männlichsein mit rebellischem Verhalten gekoppelt? Und wenn man angepasst ist und lernt, dann ist man langweilig und eher mädchenhaft?»
«Geschlecht ist gestaltbar»
Weiblichen Lehrpersonen sind nicht das Problem. Sie stehen den Männern auch nicht im Weg, in der Unterstufe zu unterrichten. Je höher das Schul- und Lohnniveau, desto grösser ist auch der Männeranteil. Typisch, würde man sagen.
Ebenso typisch ist, dass Frauen anscheinend lieber mit kleinen Kindern zu tun haben. Da wäre es nun endgültig: das gesamtgesellschaftliche Gender-Problem. Ein Problem, das Markus Theunert, Fachmann für Männer- und Geschlechterfragen, schon länger beschäftigt.
«Kein Kind sollte die Primarschule verlassen, ohne gelernt zu haben: Geschlecht ist gestaltbar.» Heute sei es Glückssache, ob die Lehrperson Gender-Kompetenzen hat und entsprechendes Wissen vermittelt. «Die Bildungspolitik und die pädagogischen Hochschulen nehmen ihre Verantwortung in diesem Feld zu wenig ernst und zu wenig systematisch wahr», kritisiert Theunert.
Wie soll Hänschen lernen, was Hans nicht vorlebt. Man denke an Männer, die wieder traditionellen Rollen und Vorstellungen verfallen. Weil man auf dieser Ebene also nicht allzu grosse Schritte vorwärtsmacht – sondern zum Teil auch rückwärts – sei hier zumindest ein Teil der möglichen Lösung skizziert, die quasi «genderneutral» ist.
Neuer Ansatz für Lehrpersonen
Die PH Zürich hat 2023 eine Studie zur Frage, inwiefern Jungen in der Schule benachteiligt sind, durchgeführt. Wenn man nur einen Lösungsansatz rauslesen möchte, dann wäre es dieser: Das Lernen kommt vor dem Verhalten. Heisst: Eine Lehrperson sollte zuerst den Lerninhalt vermitteln, bevor sie auf Verhaltensänderung besteht.
Studie der PH Zürich
Dass dies in der Realität häufig nicht so gehandhabt wird, weiss Judith Hollenweger, die an der PH Zürich eine Professur für Bildung und Diversität hat. «Man sagt Buben öfter, ‹du benimmst dich nicht gut, du musst dich zuerst ändern, bevor ich mich auf dein Lernen konzentriere› – das löst Widerstände aus und führt Kinder oft in ein Dilemma», sagt sie. Entweder entschieden sie sich für ihre Identität und ihre Vorstellungen von Männlichkeit, oder gingen auf den ungewissen Weg ein, den die Lehrperson vorschlägt: mit dem Risiko, jederzeit zu versagen.
Bewegung als Lösung
Lehrpersonen sollten die Kinder nicht zuerst zum Stillsitzen zwingen und in der vermeintlichen Ruhe den Schulstoff vermitteln wollen, sondern diesen Bewegungsdrang akzeptieren. Oder noch besser: den Bewegungsdrang aufnehmen, wie das Tim Schwander macht.
Es gibt mittlerweile Programme wie «Schule bewegt», die mehr Bewegung in den Unterricht bringen. Diese sind nicht zwingend – und es hängt von der Schule und den Lehrpersonen ab, ob es zum Beispiel im Unterricht Bewegungspausen gibt.
Ein physisches Durchlüften, indem man mit der Klasse ein Bewegungsspiel macht, hilft am Ende allen: Es kommt dem Bewegungsdrang der Kinder entgegen, ist gut für die Gesundheit und fördert die Konzentration.
Das löst noch nicht alle Probleme und Ungleichheiten in der Schule, aber hilft Jungen sowie Mädchen – und die Diskussion würde nicht zwischen den Geschlechtern geführt, sondern für die Kinder und deren Wohlbefinden in der Schule.