Mit ernstem Blick schaut Berthony Mélord in die Fotolinse. Auf der Schulter präsentiert er einen weissen Eimer, aus dem ein mit Kabelbinder befestigter Turm aus Tabletten ragt – er gleicht einem Totem für eine Welt, in der rezeptpflichtige Medikamente auf der Strasse erhältlich sind.
In Haiti bringen Händler wie Mélord die Medizin zu Kundinnen und Kunden. «Ich habe dieses Metier gewählt, weil die Leute immer Krankheiten behandeln müssen», erklärt er dem Westschweizer Journalisten Arnaud Robert und dem Fotografen Paolo Woods.
Solche tragbaren Boutiqen waren für Robert und Woods der Ausgangspunkt für eine grosse Recherche über Medikamente. Der Journalist und der Fotograf stellen Menschen aus der ganzen Welt vor, die aus ganz unterschiedlichen Gründen Medikamente einnehmen.
Daraus ist die Foto-Ausstellung «Happy Pills» entstanden, die derzeit in Renens bei Lausanne gezeigt wird. Auf das Buch zur Ausstellung wird 2023 ein Dokumentarfilm folgen.
«Ich liebe meine Medikamente»
Im Medikamententurm von Berthony Mélord befinden sich Wasserreiniger, Antibiotika, Viagra-Fälschungen oder Pillen, um eine Abtreibung einzuleiten. «Sogar in einem Land wie Haiti bietet die Pharmaindustrie ihre Tabletten als Lösung für alle Probleme an», sagt Woods. «Das ist ein weltweites Phänomen und Ausgangspunkt für unsere Recherche.»
Robert und Woods sehen sich beim Thema «Pharma» nicht als Zaungäste, sondern als Teilnehmer. Der Journalist nimmt täglich Entzündungshemmer, der Fotograf ein Medikament gegen Magenbeschwerden.
«Ich liebe meine Medikamente», schwärmt Arnaud Robert. Wenn die Schmerzen kämen, wolle er nur eins: Dass sie wieder aufhören. Der Journalist und der Fotograf wollen bei ihrem Blick auf das Verhältnis zwischen Menschen und Medikamente nicht urteilen, sondern hinterfragen.
Tramadol zum Frühstück
Alzoumo nimmt Medikamente schon zum Kaffee am Morgen. Der Bauer lebt im Niger im Umland der Hauptstadt Niamey. Dort beackert er seine Felder, die durch den Klimawandel immer weiter austrocknen. Eine harte tägliche Arbeit.
Seine Region wird zudem durch islamische Milizen bedroht. Ein Bild in der Ausstellung «Happy Pills» zeigt das schweissgebadete Gesicht des Bauern, der einen Karren mit Früchten und Gemüse durch die Hauptstadt schiebt.
Alzouma nimmt täglich Tramadol, ein in der Schweiz rezeptpflichtiges Schmerzmittel. Im Niger kann er es auf der Strasse kaufen.
Alzouma will damit seine Müdigkeit bekämpfen. «Im Niger wurde erfolgreich die Botschaft verkauft, dass Müdigkeit eine Krankheit sei, die man wie alle Krankheiten heilen kann», sagt Woods.
Die Gesundheitsbehörden im Niger beschlagnahmen jährlich Millionen von Tramadol-Tabletten. Dennoch schluckt ein grosser Teil der Bevölkerung das Medikament. Das Versprechen: Sofort schmerzfrei sein.
«Es ist verrückt, das funktioniert», sagt Robert. Zunächst gebe es wohl tatsächlich einen Schmerz, weil der Körper nicht mehr könne. Aber dann führen die Tabletten in die Sucht.
Tabletten als Projektionsflächen
Leistungssteigerung durch Medikamente wird in der Fachsprache als «Human Enhancement» bezeichnet. Damit sollen die Fähigkeiten des Menschen erweitert werden. Es geht auch um Selbstoptimierung.
Nikola Biller-Andorno leitet das Institut für Biomedizinische Ethik an der Universität Zürich. Sie hat an einem Bericht zu «Human Enhancement» der Schweizerischen Akademien der Wissenschaften mitgearbeitet. Dabei wurde um die Definition gerungen.
Schliesslich einigten sich die Forscher auf diesen Text: «Medizinische oder biotechnologische Interventionen, deren Zielsetzung nicht primär therapeutischer oder präventiver Art ist und die darauf abzielen, Menschen in ihren Fähigkeiten oder in ihrer Gestalt in einer Weise zu verändern, die in den jeweiligen soziokulturellen Kontexten als Verbesserung wahrgenommen wird.»
Ab wann es sich um Human Enhancement handelt, zeigt sich also erst im soziokulturellen Umfeld der Person, welche Medikamente einnimmt. Die Ethikerin Nikola Biller-Andorno sagt zum Versprechen hinter Tramadol im Niger: «Manchmal projizieren wir auch in Pillen als Vehikel von irgendwelchen gesteigerten Fähigkeiten etwas hinein, was sie eigentlich gar nicht leisten können.»
Genau das hinterfragt die «Happy Pills»-Recherche. «Das zeigt letztlich, dass Leute irgendetwas nehmen, was sie mit der Lösung verbinden, besser durchhalten zu können», sagt Biller-Andorno. Mit dem Griff zu Tabletten werde aber die Gelegenheit verpasst, gesellschaftliche Veränderungen anzustossen: Der Arbeitstag des Bauern werde einfach immer länger.
Viagra als Werkzeug
Vom Acker führt die «Happy Pills»-Recherche in ein Thermalbad in der Nähe von Florenz – ein Umfeld, das so glamourös wie eine Filmkulisse ist. Hier steht der nächste Protagnoist, ein muskulöser Mann mit schwarzem Haar und Bart.
Er nennt sich Roy Dolce und ist Berufs-Gigolo. Er trifft sich mit Frauen zu Rendez-vous im Hotelzimmer. Immer erwarten die Frauen, dass er seinen Mann steht.
«Seit Jahrzehnten ist Viagra die Happy Pill par excellence», sagt Arnaud Robert. Roy Dolce kann dank der blauen Pille auf sein Arbeitsgerät zählen. Er kann sich kein Versagen erlauben, das wäre «wie wenn ein Handwerker seinen Hammer vergessen hätte», sagt Robert.
Die Angst der Menschen vor dem Versagen ist uralt. Die Pharmaindustrie habe darauf die perfekte Antwort entwickelt und dadurch die Sexualität verändert, so der Journalist.
Ein Medikament als Ausdruck des Zeitgeistes: Leistung stehe an oberster Stelle. «Erst das macht Viagra zum Medikament des Jahrhunderts», sagt Robert. Vier Milliarden der blauen Pillen werden jährlich weltweit verkauft.
Volksdiagnose Aufmerksamkeitsstörung
Leistung zählt auch in anderen Lebensbereichen, etwa in der Schule. Wie bei Addy, einer Schülerin im US-Bundesstaat Massachusetts. Ihr Leben ist amerikanische Normalität: Schule, Cheerleading, Freikirche und das alles in einem wohlbehüteten familiären Umfeld.
Auf einem Foto in der Ausstellung ist sie in der Schule zu sehen, gerade schreibt sie einen Mathematiktest. Im Klassenzimmer hinter ihr ist ein Poster mit den Worten «Your mistakes don’t define you» («Deine Fehler machen dich nicht aus») zu sehen. Eigentlich eine ermutigende Botschaft.
In den Gängen von Addys Schule hängen aber auch ganz andere Botschaften. Etwa, dass man 200'000 bis 300'000 Dollar mehr verdient im Leben, wenn man an die Universität geht.
Bei Addy wurde das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom diagnostiziert, wie bei jedem zehnten Kind in den USA zwischen 2 und 17 Jahren. Drei Viertel dieser Kinder werden medikamentös behandelt. Addy nimmt Adderall, damit sie besser lernen kann. Es ist vergleichbar mit dem hier bekannteren Ritalin.
Der Erwartungsdruck auf die Kinder ist so gross, dass manche das nur mit Amphetaminen durchstehen können. Das ist auch in der Schweiz ein Thema.
In der Hülle ruht die Kraft
Weder der Schülerin Addy noch dem Bauern Alzouma oder Gigolo Roy Dolce sieht man den Medikamentenkonsum auf den ersten Blick an. Offensichtlich sind pharmazeutische Substanzen hingegen bei den indischen Bodybuildern, die «Happy Pills» zeigt. «Man will kräftig sein», sagt der Journalist Arnaud Robert. Auch diesen Wunsch erfüllt die Pharmaindustrie, dank Steroiden.
Die Hormonbehandlung verleiht Bodybuildern auf der ganzen Welt eine gleiche Muskelmasse. Dank Pillen und weltweit gleichen Trainingsgeräten werden die Muskeln standardisiert aufgebaut. So auch in Indien, einer der grossen Bodybuilding-Nationen der Welt.
Doch wie viel Kraft liegt in den Standardmuskeln? Paolo Woods liess die Bodybuilder für ein Fotoshooting in Mumbai fünf Etagen in einem Wohnblock im Bau hochsteigen. «Sie hatten Mühe, hoch zu gelangen. Denn diese Muskeln schleppen sie wie eine Panzerung mit sich herum», sagt Woods.
Wegen der Nebenwirkungen der Steroide verlieren sie zudem ihre Männlichkeit. Die Muskelkraft und Virilität sind mehr Schein als Sein.
Grenzenlos dank «Happy Pills»?
«Happy Pills» zeigt die unzähligen Anwendungsbereiche von Medikamenten, auch Antidepressiva sind ein Thema der Recherche.
Als Gast der Ausstellung fragt man sich, wo der vielfältige Pillenkonsum hinführt. «Per Definition sind unserer Existenz Grenzen gesetzt. Wer sich dennoch Medikamenten hingibt, die Grenzenlosigkeit versprechen, der leugnet eine Offensichtlichkeit der Natur», fasst Arnaud Robert zusammen.
Die Ausstellungsmacher durchleuchten das Verhältnis zwischen Menschen und Medikamenten geschickt. Oft verschwimmen die Grenzen zwischen Arzneimittel und Selbstoptimierung.
Wird da jemand geheilt oder dopt sich die Person schon? Das abschliessende Urteil können wir Zuschauerinnen und Zuschauer – die wir meist auch Konsumentinnen und Konsumenten sind – selbst fällen.