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Auf dem Weg zur hypersensiblen Gesellschaft?
Aus Sternstunde Philosophie vom 14.11.2021.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 58 Minuten 43 Sekunden.

Sorgenfall Sensibilität Alle so feinfühlig – aber die Fronten verhärtet

Unsere Gesellschaft ist so sensibel wie noch nie. Das kann zum Problem werden, sagt die deutsche Philosophin Svenja Flasspöhler. Ein Dilemma, drei Debatten.

Es war einmal ein Ritter, die Philosophin Svenja Flasspöhler nennt ihn Johan. Der plündert Kirchen, «vergewaltigt, quält Witwen und Waisen, verstümmelt seine Opfer.» 1000 Jahre sind seither ins Land gezogen.

Heute ist aus Ritter Johan ein Familienvater namens Jan geworden. «Verheiratet, zwei Kinder, gehobene Mittelklasse.» Nie käme es diesem Jan in den Sinn, Hand anzulegen.

Eine junge Frau mit wilder Frisur.
Legende: Sensibilität könne in Rückschritt umschlagen, schreibt die Philosophin Svenja Flasspöhler. Johanna Ruebel

No-Go «N-Wort»

Bei seinen Kindern setzt er auf die Kraft von Zuwendung und Diskurs. Wenn er seiner Tochter «Pippi Langstrumpf» vorliest (die Ausgabe stammt noch aus seiner eigenen Kindheit), lässt er das «N-Wort» weg und sagt «Südseekönig».

Gemessen an Mörder Johan ist Familienvater Jan ein zivilisatorischer Fortschritt. Mit ihrem Beispiel belegt Svenja Flasspöhler in ihrem neuen Buch «Sensibel», dass «Sensibilität eine Errungenschaft der Zivilisation ist».

Im selben Buch schreibt sie auch: «Übersensibilität behindert mittlerweile gesellschaftliche Debatten.» Klare Worte, komplexes Thema.

Buchhinweis

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Svenja Flasspöhler: Sensibel: Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Klett-Cotta, 2021.

Vorauseilend Verletzungen vermeiden

Sensibilität, so schreibt Svenja Flasspöhler in «Sensibel», könne jedoch in Rückschrittlichkeit umschlagen. Dann nämlich, wenn sie verabsolutiert und glorifiziert werde. Wenn man zunehmend rote Linien ziehe, die nicht überschritten werden dürften.

«Wenn Wörter mit Verletzungsrisiko weiträumig zu umgehen respektive vollkommen kontextunabhängig zu tilgen sind; wenn Menschen ihre Arbeit verlieren, weil sie sich angeblich verletzend geäussert haben, dann sind Freiheit und Autonomie in Gefahr.»

Wenn man permanent jede Sensibilität der anderen im Hinterkopf habe, werde sie zur Zwangsjacke vorauseilender Verletzungsvermeidung. Das fange schon im Privaten an. Vegetarier, Fleischessende, Glutenfreie, Lactoseintolerante, Cholesteringesenkte «bekommt man nicht mehr an einen Tisch.»

Die Gesellschaft, so Flasspöhler, sei zersplittert. Durch zu viel Sensibilität steigere sich das noch mehr.

«Zunehmende Überempfindlichkeit»

Sensible und Nicht-Sensible stünden sich zunehmend als unvereinbare Lager gegenüber, sagt Flasspöhler: «Während die einen sagen: ‹Ihr stellt euch an, seid hypersensible Schneeflocken!›, entgegnen die anderen: ‹Ihr seid verletzend und beleidigend, an eurer Sprache klebt Blut!›»

Linards Udris, der am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich forscht hält die Gegenüberstellung von «Sensiblen» und «Nicht-Sensiblen» für nicht plausibel. Aber er beobachtet generell und von verschiedenen Seiten «eine zunehmende Überempfindlichkeit». Besonders im digitalen Raum.

Udris verweist auf den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, der von der ‹grossen Gereiztheit› spreche. «Wenn sich Menschen im Netz begegnen, dann als Gruppen. Konträre Weltsichten prallen aufeinander, frontal.»

In den jeweils eigenen Echoräumen hört man die eigene Meinung tausendfach durch die anderen Gruppenmitglieder widerhallen, die alle derselben Ansicht sind. Man könnte so weit gehen zu sagen: Der Austausch verschiedener Meinungen wird durch die sozialen Medien systematisch verlernt.

Buchhinweis

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Bernhard Pörksen: Die grosse Gereiztheit – Wege aus der kollektiven Erregung. Carl Hanser Verlag, 2018.

Die wechselseitigen Verhärtungen und Beschimpfungen würden zunehmen, stellt Udris fest. «In den sozialen Medien meint die einzelne Gruppe in der Tendenz, sie sei benachteiligt, also ein Opfer. Täter sind dann aus Sicht dieser Gruppe die anderen.»

Das sei eine moralisch emotionale Aufladung der Diskussion. Wenn man als Mitglied einer Gruppe das Gegenüber nicht mehr als Gegner, sondern als Feind sehe und nicht mehr anerkenne, gebe es keinen Diskurs mehr.

Drei Beispiele, die das belegen.

1. Corona

Der tiefe Spalt in der Gesellschaft zeige sich bei Corona auch. Die einen sagen: «Wir müssen uns schützen. Der Staat soll das durchsetzen. Die anderen sagen, wir müssen wieder frei sein, liberal und jeder ist für sich selbst verantwortlich. Diese beiden Seiten klatschen aufeinander. Das ist durch Corona extrem gesteigert worden», sagt Flasspöhler.

Die Reaktionen auf die Schliessung der «Walliserkanne» in Zermatt zeigt diese Steigerung. Die Betreibenden des Restaurants hatten sich mehrfach geweigert, die Zertifikats- und Maskenpflicht durchzusetzen.

Die Fassade eines Restaurants namens «Walliserkanne».
Legende: Machte schweizweit Schlagzeilen wegen seiner Schliessung: die Zermatter «Walliserkanne». Keystone / LAURENT GILLIERON

Der «Zürcher Tagesanzeiger» überschreibt einen Kommentar mit «Die Walliserkanne ist nicht das Rütli». Darin heisst es: «Niemand braucht sich für die Opposition gegen das Covid-Gesetz zum Märtyrer zu machen.»

«Rütli» und «Märtyrer»: Höher kann man begrifflich kaum ansetzen, um die Stimmung rund um die Schliessung zu beschreiben, als den staatsbildenden Moment und den Märtyrertod Jesu zu zitieren.

Am Schluss ist Schweigen

Wenn die Stimmung tatsächlich so gewesen sein sollte: Wie soll da noch ein Diskurs möglich sein? Die Lager könnten kaum abgeschotteter sein zwischen den Befürwortenden der Schliessung und den Gegnerinnen und Gegnern und die Sensibilitäten sind dementsprechend hoch.

Der Graben, von dem Flasspöhler spricht, scheint gross zu sein. Wie schwer der Diskurs fällt, zeigt der Versuch der «Sonntagszeitung», zwei gegensätzliche Positionen doch an einen Tisch und ins Gespräch zu bringen.

In der Ausgabe vom 7. November 2021 hört sich ein Treffen zwischen der Schauspielerin Miriam Stein und der Satirikerin Patti Basler «munter an, bis sie über Covid sprechen». Der Artikel «Das unmögliche Gespräch» beginnt mit dem Satz: «Vielleicht bleibt am Schluss tatsächlich nur eins: Schweigen. Die stumme Einsicht also, dass ein Dialog unmöglich ist.»

An genau diesem Punkt müsse die Auseinandersetzung aber weitergehen, fordert Flasspöhler. Sonst zerfalle die Gesellschaft in unüberbrückbare Positionen.

Ein Mann mit grosser Glocke auf den Schultern. Auf seinem weissen Shirt steht: Helvetia-Trychler.
Legende: Seine Truppe hat sich Gehör verschafft: ein «Glöckner» der umstrittenen Helvetia Trychler. Keystone / MICHAEL BUHOLZER

Die Spitze der Zuspitzung

Die anonyme Gruppe «Wir für Euch» veröffentlicht ein Video, in dem sich Helvetia Trychler und vermeintliche Polizistinnen und Polizisten kameradschaftlich die Hand reichen, als kämpften sie für ein und dieselbe Sache. Das impliziert: Wer dagegen ist, gehört nicht zu uns.

Kommunikationsforscher Linards Udris beobachtet in seinen Untersuchungen eine deutliche Zunahme dieser «identitätspolitischen Themen wie Europa, Migration, Rassismus, Gleichberechtigung von Homosexuellen».

Implizit laufe also immer die Identitätsfrage mit: Wer gehört dazu und wer nicht? Spaltung wird zum Programm, sie kann nur durch Auseinandersetzung, durch den gesellschaftlichen Diskurs überwunden werden.

«Identitätspolitische Themen gehören zur jüngeren und jetzt dominanten Konfliktlinie, anders als die klassischen wirtschaftspolitischen Themen wie Rentenreform oder Wohnungsmarkt», sagt Linards Udris.

Demonstranten mit Schweizer Flagge und Anti-Impfzwang-Plakaten
Legende: Auch bei der Corona-Demo gehe es um Identität, sagt der Kommunikationsexperte Linards Udris. Keystone / Urs Flüeler

Damir Skenderovic, Historiker für Professor für Zeitgeschichte an der Universität Fribourg, erinnert: Der Gestus der Corona-Skeptiker und ihr «Das wird man doch wohl noch sahen dürfen» respektive die explizite Vokabel «Maulkorb» gehe auf den Holocaust-Leugner Gaston-Armand Amaudruz zurück, der 1994 vor der Abstimmung die Rassismus-Strafnorm als «Maulkorbgesetz» bezeichnete.

2. Die #Metoo-Debatte

Damir Skenderovic sagt: Das Signifikante am Fall Weinsteins sei, dass nicht nur Straftaten öffentlich wurden, «die längst auf das Tapet hätten gebracht werden sollen».

Signifikant sei auch, dass die Ausnutzung von Macht an verschiedenen Orten in der Gesellschaft sichtbar wurde – nicht nur in Medienunternehmen, sondern auch an Universitäten und in der Verwaltung.

«Man wird keinen Ort finden, wo Macht nicht zentral ist», sagt Damir Skenderovic. «Die Sichtbarmachung von Machtmissbrauch hat die Geschichte der Frauenbewegung immer begleitet.»

Der Fall Weinstein und #metoo

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Dem US-amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein wurden jahrelang hinter vorgehaltener Hand sexuelle Übergriffe, Nötigungen, Vergewaltigungen nachgesagt. 2017 machten zuerst der «New Yorker» und die «New York Times» Vorwürfe öffentlich.

Im Zuge der Debatte lancierte die Aktivistin Tarana Burke den Hasttag #metoo und forderte Frauen auf, ihre Erfahrungen mit sexueller und struktureller Gewalt öffentlich zu machen. Der Hashtag wurde millionenfach genutzt.

Weinstein wurde in zwei von fünf Anklagepunkten schuldig gesprochen: Vergewaltigung und sexuelle Nötigung. Am 11. März 2020 wurde er zu 23 Jahren Gefängnis verurteilt. Gegen das Urteil hat er Berufung eingelegt.

Das Zentrale an #Metoo sei «die weltweite Sichtbarkeit. Zweitens, dass Machtverhältnisse in Bezug auf die Genderdebatte neu betrachtet werden. Und drittens die entstandene Solidarität, die sehr viel dazu beigetragen hat, dass ein kollektives Handeln solchen Missständen begegnete.»

«Das grenzt an Totalitarismus»

Die Sensibilisierung für Machtmissbrauch findet Flasspöhler so richtig wie, «dass diese hoch problematische Struktur so nicht mehr existiert». Aber es habe eine Art von Strukturkritik gegeben, die es sich zu einfach mache.

«Natürlich muss ein Staat mich davor bewahren, vergewaltigt oder genötigt zu werden. Das ist klar. Aber zu fordern, am Arbeitsplatz dürfe gar keine Erotik mehr stattfinden, geht zu weit. Das Soziale auf diese Weise regeln zu wollen, grenzt an Totalitarismus.»

Eine Frauenhand berührt die Hand eines Mannes, die auf seinen Knien liegt.
Legende: Wo verläuft die Grenze? Die #Metoo-Debatte hat uns für Machtmissbrauch sensibilisiert. Getty Images / EyeEm

Wo bleibt die Freiheit?

Komplimente, Einladungen, Gesten: Was zu weit geht, muss für Svenja Flasspöhlers immer wieder neu ausgehandelt werden. Sonst werde «die Verantwortung, die in den Individuen selber liegen müsste, an den Staat delegiert.»

Das führe in diesem Fall zu einer Infantilisierung der Frauen und zu einer Übermacht des Staates und zur Vereindeutigung der Ambivalenz des Sozialen, sagt Flasspöhler.

Das Soziale sei zweischneidig: «Wenn sich Menschen in Freiheit begegnen, besteht immer die Gefahr, dass der andere etwas sagt, was einem nicht nur angenehm ist. Wenn wir weiterhin in einer freien Welt leben wollen, müssen wir uns befähigen, damit umzugehen.»

3. Die Black Lives Matter-Bewegung

Daran macht Svenja Flasspöhler – wie auch an #metoo – die Kraft der Empathie fest, durch die soziale Bewegungen überhaupt erst Macht bekommen: «Das Video von George Floyd war der emotionale Trigger, der Empathie ausgelöst hat. Das ist erst mal sehr richtig und gut. Aber man darf Empathie nicht mit Moral verwechseln.»

David Hume, schottischer Philosoph des 18. Jahrhunderts, beschreibt die Übertragung des Mitgefühls «fast als eine Art von Gefühlsansteckung, die in Gewalt münden kann. Auch Black Lives Matter ist ja nicht gewaltfrei. Man darf nicht den Fehler begehen, Empathie einfach nur zu glorifizieren», sagt Flasspöhler.

Zwei Menschen umarmen sich vor einem Wandgemälde, das George Floyd zeigt.
Legende: Die Black Lives Matter-Bewegung sensibilisiere für Herrschaftsverhältnisse, sagt derHistoriker Damir Skenderovic. Keystone / CRAIG LASSIG

Damir Skenderovic hält dagegen: «Diese Wut, dass die US-amerikanische Gesellschaft trotz eines Schwarzen Präsidenten durch und durch strukturell rassistisch ist, führte dazu, Herrschaftsverhältnisse einer Mehrheit, die die Macht hat, aus der Position einer Minderheit in Frage zu stellen.»

Eine Frage des Kontexts

Die Black Lives Matter-Bewegung sensibilisierte für genau diese Herrschaftsverhältnisse und damit auch für die Frage: Wo beginnt Herrschaft in diesem Fall? Bei der Abwertung von Menschen durch strukturellen und Alltagsrassismus.

Dafür zu sensibilisieren, sei prinzipiell richtig, aber bei der Diskussion um die Verwendung rassistischer Begriffe wie dem «N-Wort» sei zu unterscheiden, statt zu verbieten, sagt Svenja Flasspöhler.

«Wo wird denn das ‹N-Wort› verwendet? Wird jemand auf der Strasse diskriminiert? Was aus meiner Sicht eine unzumutbare Zumutung ist. Oder wird dieses ‹N-Wort› auf einer Theaterbühne verwendet?»

Es komme auf den Kontext an, sagt Flasspöhler. Die roten Linien gelten nicht kontextunabhängig für alles, das bekäme totalitäre Züge. Das führe dazu, dass man die Individuen infantilisiere. «Man mutet ihnen dann nichts mehr zu. Aus meiner Sicht sind wir gesellschaftlich gerade in Gefahr, dass wir uns genau in diese Richtung begeben.»

Svenja Flasspöhlers Thesen sind umstritten, am schärfsten widersprachen «Süddeutsche Zeitung» und der Bayerische Rundfunk. «Umstritten» wird oft als Warnung benutzt. Für Flasspöhler dürfte es – gerade im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Diskursfähigkeit – ein Kompliment sein. Paradox formuliert: Streiten zu können hält die Gesellschaft zusammen.

Sternstunde Philosophie, 14.11.2021, 11:00 Uhr

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