«Schön, dass wir auch heute wieder für unsere Freiheit und unsere Eidgenossenschaft getrychelt haben», ruft die Anführerin der «Helvetia-Trychler». Die letzten Töne der schweren Glocken der rund 30 Mannen und (wenigen) Frauen sind an diesem frischen Sommerabend auf einer Alp im Toggenburg soeben verklungen. Im Westen leuchtet das Abendrot.
Der Soundtrack der Corona-Skeptiker
Es ist einer von vielen Trychler-Auftritten in letzter Zeit vor dem Hintergrund der Coronakrise. Ihr Läuten ist zur monoton-urchigen Begleitmusik der Schweizer Corona-Skeptiker geworden.
Karl «Kari» Mächler ist der Kopf dieser «Helvetia-Trychler». Sie haben sich erst vor kurzem formell als Verein organisiert. «Wir wollten sicherstellen, dass wir immer wissen, wer zu uns gehört und wer nicht», begründet Mächler diesen Schritt. Denn mit aggressiven Leuten, Rechtsextremen und «Chaoten», wie sie teilweise bei den Corona-Demonstrationen im Frühjahr mitliefen, wollen die Trychler nichts zu tun haben. «Wir sind bodenständige Leute mit Anstand.»
Politisches «Trycheln» seit 30 Jahren
Dass im politischen Kontext getrychelt wird, ist kein Novum. Mächler selber – heute ist der pensionierte Metzger aus dem Wägital im Kanton Schwyz 67 Jahre alt – hat schon vor 30 Jahren mit seinen Trychlern Christoph Blochers Kampf gegen den EWR-Beitritt untermalt. Dabei geht es ihm immer um das gleiche: «Um unsere Freiheit.» Heute schränkten die Massnahmen des Bundesrats die persönliche Freiheit ein – zum Beispiel bei den Impfungen. «Jeder soll frei entscheiden können, ob er sich impfen lassen will oder nicht», sagt Mächler. Stattdessen übe der Staat Druck auf die Ungeimpften aus.
Verteidiger der «Schweizer Werte»
Wenn sie als Trychler mit ihren weissen Kapuzen-Leibchen mit dem Helvetia-Logo hinter der Schweizer Fahne im Gleichschritt marschieren, sehen sie sich als Verteidiger der «wahren» Schweiz. «Die alten Eidgenossen haben schon für die Freiheit gekämpft», so Mächler. Das wollten sie den Menschen in Erinnerung rufen. Denn wenn sogar bodenständige, friedliebende Urschweizer sozusagen als letzte Kraft auf die Strasse gingen, mache das schon Eindruck, ist Mächler überzeugt.
Schweizer Gründungsmythos aus dem 19. Jahrhundert
Mit Freiheit, Unabhängigkeit und der Sonderrolle der Schweiz beziehen sich die Trychler tatsächlich auf ein traditionelles Schweiz-Bild. Allerdings reichen dessen Wurzeln viel weniger weit zurück als bis in die Zeiten der alten Eidgenossen.
Der Gründungsmythos der Schweiz, auf den sich die Trychler berufen, ist eine politische Erfindung des 19. Jahrhunderts. Der Bundesrat erklärte damals im Hinblick auf das Jahr 1891 den Bundesbrief zur Gründungsurkunde und legte ein Gründungsdatum fest, das sich auf dem Bundesbrief so nicht findet: den 1. August 1291. Damit war die gemeinsame Geschichte, die weit zurückreicht, gefunden. Sie gab den Anlass für die nachfolgende 600-Jahre-Feier und sollte den Zusammenhalt im erst 40-jährigen, noch fragilen Bundesstaat, der nach einem Bürgerkrieg entstanden war, stärken.
«Dieses Vorgehen des Bundesrats war aus heutiger Sicht ein nachhaltiger Erfolg», sagt Annina Michel. Sie ist die Leiterin des Bundesbrief-Museums in Schwyz. Denn dieser Mythos, so die 37-jährige Historikerin, habe sich ins Schweizer Bewusstsein eingebrannt, spätestens in den 1930er-Jahren, zur Zeit der Geistigen Landesverteidigung. «Da ging es darum, sich gegen aussen abzugrenzen und gegen innen eine verschworene Gemeinschaft zu bilden», beschreibt Michel diese Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.
Bild vom «historischen Sonderweg» zementiert
Es sei alles betont worden, was als typisch schweizerisch galt: «Auch die Idee vom historischen Schweizer Sonderweg und die Darstellung, dass sich die Schweiz als Land mitten in Europa völlig unabhängig entwickelt habe – mit der Konsequenz, dass die Schweizerinnen und Schweizer gar nicht so sein könnten wie die anderen.»
Insofern sei die Gründungsgeschichte der Schweiz zwar ein Mythos, aber doch eine Geschichte, die bis heute eine wichtige Funktion für die schweizerische Identität habe. Ein gemeinsamer Mythos, der es möglich macht, sich auch in Opposition zur aktuellen Regierung auf ihn zu berufen – wie das die Corona-Skeptiker begleitet von gleichgesinnten Trychlern in den letzten Monaten machten.
Wie an diesem Abend auf der Toggenburger Alp.
Landeshymne im Abendrot
Jetzt, wo die schweren Glocken ruhen, stimmen die rund 100 Menschen zu Musik aus dem Lautsprecher in die Schweizer Nationalhymne ein. Sie singen vom Morgenrot, was zur Farbe des Himmels passt, auch wenn die Tageszeit die falsche ist.
Auch die Ursprünge dieses Liedes reichen – wie jene des Gründungsmythos der Schweiz – nicht bis ins Mittelalter zurück. Der «Schweizerpsalm» stammt ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert, komponiert und getextet wenige Jahre vor der Gründung des Schweizer Bundesstaates. Und das Lied hatte erst noch lange Zeit gar keine öffentliche Funktion. Erst in den 1960er-Jahren wurde es provisorisch und dann 1981 definitiv zur offiziellen Nationalhymne der Schweiz erklärt.