Bei der ersten Krebsdiagnose war er 45. Als Onkologe wusste Wolfram Gössling genau, was auf ihn zukam. Und trotzdem traf es ihn unvorbereitet: «Ich hatte nie daran gedacht, dass es mich treffen würde. Das ist vielleicht so ein Abgrenzungsmechanismus, dass man denkt, man könne selbst nicht krank werden.»
Bei Gössling wurde ein Angiosarkom im Gesicht diagnostiziert, ein seltener, aber besonders aggressiver Krebs, der seinen Anfang in den Blutgefässen nimmt. Die Überlebenschance lag bei vier Prozent.
Eine aggressive Therapie mit Folgen
Doch Sterben sei keine Option gewesen, erzählt er. «Ich hatte vier Kinder, die kleinste war fünf, die älteste elf Jahre alt. Ich wollte sie aufwachsen sehen. Ich hatte eine Karriere, eine wunderbare Frau, ich wollte nicht sterben.»
Gössling ist Wissenschaftler, er will den Dingen auf den Grund gehen. Er liess alles mit sich machen, was man gerade noch so überlebt. Er entschied sich für eine aggressive Therapie, hat sich das halbe Gesicht wegschneiden und plastisch korrigieren lassen.
Kein Quadratzentimeter seiner Gesichtshaut sei noch am richtigen Platz, sagt er. Er liess all das von einer Fotografin festhalten und schrieb ein Buch darüber, dessen Lektüre einen den Atem stocken lässt.
«Einen Krebs zu bekämpfen, ist brutal und bereitet Schmerzen. Gleichzeitig ist es aber auch unser Leben, das ist die Realität für sehr viele Menschen.» Sie müssten all die Entbehrungen, Ängste und Torturen oft allein ertragen, weil sie diese mit den sogenannt Gesunden nicht teilen könnten. «Deshalb war es mir so wichtig festzuhalten, was mit mir geschieht.»
Die wichtigsten 20 Minuten im Monat
Die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, nehme zu, wie die neusten Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO zeigten. Krebs sei aber in vielen Fällen überwindbar. Die Forschung entwickle sich rasant, er sei der lebende Beweis, dass dies möglich ist, sagt Gössling.
Meine erste Reaktion war: Ich kann das nicht, ich schaffe das nicht.
Doch er wisse auch, dass sich nicht alle Menschen monatelangen Torturen aussetzen können und wollen. Manchen sei der Preis zu hoch. Er verstehe dies jetzt besser, wo er selbst zum Patienten geworden sei.
Der Krebs habe auch einen anderen Arzt aus ihm gemacht. Wenn man in einem Behandlungszyklus stecke, dann hätte man als Patient einen Termin pro Monat. Für den Arzt sind das nur 20 Minuten eines Acht- oder Zehnstundentags. Für den Patienten sind es jedoch die 20 wichtigsten Minuten im Monat.
«Jedes Wort, jede Geste – alles zählt. Wann lächelt der Arzt? Wie hält er den Kopf? Alles wird interpretiert. So ist mir klar geworden, dass man immer voll präsent sein muss, wenn man den Patienten ernst nimmt.» Zwar mache er auch nicht immer alles richtig – aber es sei das, «was ich anders machen will».
Eine Lizenz zum Weiterleben
2020 kommt der Krebs zurück. Wieder im Gesicht. «Meine erste Reaktion war: Ich kann das nicht, ich schaffe das nicht. Und ja, es kam komplett aus dem Nichts.»
Doch Gössling lässt sich erneut behandeln. Den Telefonanruf, den er nach der Operation bekam, beschreibt er als einen der schönsten Momente seines Lebens: «Mein Onkologe rief mich an und sagte, es gibt keine Krebszellen mehr. Dann haben wir beide geweint, und ich dachte: Jetzt hast du nochmal eine Lizenz zum Weiterleben bekommen.»
So scheint Gössling auch zu leben, er macht Pläne und schreibt Forschungsaufträge. Aber manchmal verlangsame er seinen Schritt und denke: «Das ist wirklich gut, dass ich hier bin, dass ich am Leben bin. Das Leben ist gut.»