Ich habe es gewagt. Mit 34 liess ich mich sterilisieren. Meine Samenleiter wurden durchtrennt. Ich werde nie mehr ein Kind zeugen.
Das war vor zweieinhalb Jahren. Seither habe ich das Thema in meinem Umfeld immer wieder offen angesprochen und gemerkt: Für viele Männer ist nur schon ein Gespräch über diesen Eingriff zu viel. Warum sträuben sich viele, den endgültigen Schnitt zu machen?
Besuch in der Urologie
Auf der Suche nach Antworten spreche ich mit verschiedenen Männern. Unter anderem begleite ich Jonathan, der wie alle Patienten, die ich treffe, nicht mit Nachnamen genannt werden möchte. Der 35-Jährige hat am Inselspital Bern das Vorgespräch für seine Vasektomie, auch «Unterbindung» genannt.
Die erste Frage des Urologen: «Haben Sie Kinder, oder wollen Sie keine?» Jonathan erzählt, dass er zwei Kinder habe und getrennt von der Mutter lebe. Seine neue Partnerin habe bereits ein Kind aus einer früheren Beziehung. «Ich will keine weiteren Kinder», sagt Jonathan.
Was Jonathan dem Arzt ganz sachlich und rational sagt, hat eine grosse Tragweite. Egal, was in seinem Leben noch passiert: Nachwuchs gibt es keinen mehr. Zwar liesse sich die Vasektomie theoretisch rückgängig machen. Eine Erfolgsgarantie gibt es jedoch nicht.
Die Sache mit der Sicherheit
Ich selbst hatte mehr Mühe als Jonathan. Bevor ich mich für den Eingriff entschloss, war ich lange gegen eine Vasektomie. Mein Argument: Für den Fall, dass meine Frau und Kinder bei einem Autounfall sterben, wäre ich jung genug, um noch ein zweites Leben zu starten. Ich wollte mir nichts verbauen.
Der Sinneswandel kam, als mir klar wurde: Das Horrorszenario Autounfall ist viel unwahrscheinlicher, als dass wir trotz Kondomverhütung ein drittes Kind bekommen.
Ich habe immer gewusst, dass ich keine Kinder will.
Einfacher haben es da Männer, für die Nachwuchs ohnehin kein Thema ist. So wie Julian. Er liess sich mit 24 Jahren unterbinden. «Ich habe immer gewusst, dass ich keine Kinder will», sagt er.
«Als Alternative zur Vasektomie gäbe es das Kondom, was mir zu unsicher ist, oder sonst wäre einfach die Frau für die Verhütung zuständig.» Er habe ein besseres Gefühl, wenn das endgültig geregelt sei, sagt Julian.
Zwei Zentimeter entscheiden
Zurück ans Inselspital Bern. Für die Untersuchung tastet der Urologe an Jonathans Hodensack. «Hier spüre ich den Hoden, dann den Nebenhoden. Davon ausgehend spürt man eine Struktur, fast wie eine ungekochte Spaghetti. Das ist der Samenstrang.»
Der Urologe erklärt, dass bei der Operation von beiden Samensträngen je ein etwa zwei Zentimeter langes Stück herausgeschnitten werde. «Die Enden werden verödet und mit einem Faden abgebunden. Anschliessend werden sie in unterschiedlichen Unterhautschichten eingepackt.» So soll verhindert werden, dass die Enden wieder zusammenwachsen.
Die Risiken eines Routineeingriffs
Die Liste möglicher Komplikationen des Eingriffs ist lang. «Es kann bluten, einen Infekt geben, es kann eine Wundheilungsstörung geben. Das kann auch zu Folgeeingriffen führen», sagt der Urologe.
Auftreten könne auch eine Entzündung der Hoden oder Nebenhoden, oder ein sogenannter Sekretstau, der aus dem Nebenhoden komme. Das sei aber selten.
Ebenfalls äusserst selten, aber sehr schmerzhaft sei das sogenannte «Samengranulom». Das entsteht, wenn ausgelaufene Samenflüssigkeit einen Raum unter der Haut füllt.
Jonathan fragt nach, was die Anzeichen für diese Komplikationen wären. «In all diesen Fällen haben Sie deutliche Symptome. Fieber, Schmerzen, einen Ausfluss aus der Naht», sagt der Arzt. Im Normalfall gäbe es ausser einer kleinen Schwellung am Hodensack aber keine Symptome.
Zugleich macht er jedoch auf das «Post-Vasektomie-Schmerzsyndrom» aufmerksam – chronische Schmerzen an Hoden oder Samenleiter nach dem Eingriff. Bis heute sei nicht abschliessend geklärt, woher die Schmerzen kommen.
Jonathan lässt sich von der langen Liste nicht abschrecken. Der Urologe beruhigt ebenfalls: «In der Schweiz werden jährlich rund 10'000 Vasektomien gemacht. Und davon leiden vier Patienten an diesem Post-Vasektomie-Schmerzsyndrom.»
Rückzieher in letzter Sekunde
Bei der Recherche zu diesem Thema habe ich auch mit vielen Männern gesprochen, die sich gegen eine Vasektomie entschieden haben. Zum Beispiel Ivan. Der 48-Jährige hat zwei Kinder und lag schon auf dem Operationstisch für die Vasektomie, als ihn plötzlich ein ungutes Gefühl befiel.
Ich hielt es nicht mehr aus und habe noch im Operationssaal abgebrochen.
Nach der örtlichen Betäubung habe man seinen Hoden gedrückt, als ihm plötzlich übel geworden sei. «Ich fragte mich: Will ich diese Schmerzen wirklich? Dann hielt ich es nicht mehr aus und habe das Ganze noch im Operationssaal abgebrochen.» Ivan bleibt dabei: Eine Vasektomie sei nichts für ihn.
Anzahl Vasektomien nimmt ab
Die aktuellsten Zahlen zur Vasektomie in der Schweiz stammen aus der Gesundheitsbefragung von 2017. Das Bundesamt für Statistik gab an, dass die Zahl der Sterilisationen nach einem Anstieg zwischen 1992 und 2002 seither wieder zurückgehen.
Weiter hiess es in der Medienmitteilung: «Insbesondere bei den Männern zwischen 35 und 54 Jahren wird sie immer weniger eingesetzt.»
Woher kommt dieser Rückgang? Bei manchen ist es wohl wie bei Ivan: der Respekt vor den Schmerzen. Der grössere Faktor sei jedoch Unwissen, sagt Sandro Lütolf, Oberarzt in der Urologie am Spitalzentrum Biel. «Viele stellen sich den Eingriff viel grösser vor, als er ist.» Das halte viele davon ab, sich überhaupt darüber zu informieren.
Hinzu komme, dass die meisten Männer es nicht gewohnt seien, im Intimbereich untersucht, geschweige denn operiert zu werden. «Der Ort ist maximal intim, nicht vergleichbar mit einer Operation zum Beispiel am Handgelenk.»
Im Gegensatz zu Frauen gehören Untersuchungen im Genitalbereich bei Männern nicht zur Routine. Dass sich in dem Fall aber einfach die Frau unterbinden lassen sollte, gilt nicht als Argument. Denn: Die Unterbindung bei der Frau ist viel aufwändiger, teurer und gefährlicher als beim Mann.
Männlichkeit in Gefahr
Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung der Männer sieht Urologe Lütolf beim «gefühlten Verlust der Männlichkeit». Einige würden sich fragen, was eine Vasektomie für einen Einfluss auf das Testosteron, die Libido oder die Erektion hat.
«Völlig unbegründete Bedenken», winkt Lütolf ab. «Man macht nichts am Hormonhaushalt oder am Schwellkörper.» Auf das Testosteron oder die Erektion habe eine Vasektomie daher keinen Einfluss.
Am Inselspital Bern steht nach Jonathans Vasektomie-Vorgespräch fest: Er wird wiederkommen, um sich die Samenleiter durchtrennen zu lassen. Angst um seine Männlichkeit hat er keine.
Ich selbst halte es wie Jonathan: Warum sollte ich nach der Unterbindung kein richtiger Mann mehr sein? Wovor genau fürchten sich hier manche Männer?
Einordnung vom Männer-Coach
Antworten auf die Frage nach der Angst vor der Vasektomie erhoffe ich mir von Mario Meier. Der Männer-Coach bietet unter anderem ein «Männertraining» an. Ein Jahresprogramm für Männer, «die ihr Mann-Sein bewusst, authentisch und kraftvoll leben wollen!» So steht es auf seiner Webseite.
Welchen Einfluss hat eine Vasektomie auf die Männlichkeit? «Da gehen die Meinungen auseinander, ob dieser Schnitt einen Einfluss hat oder nicht», sagt Mario Meier.
Wichtig sei, dass der Mann eine klare Haltung habe: «Ein Mann, der sich innerlich damit auseinandergesetzt hat und ein klares Ja für diesen Eingriff hat, verliert auch nichts von seiner Manneskraft.»
Die Gefahr bestehe jedoch darin, dass Männer nicht offen über dieses Thema sprechen und dadurch ein gewisser Druck entstehe, sagt Meier.
Ich will nichts verändern an einem gut funktionierenden Körper.
Für ihn selbst kommt eine Vasektomie nicht infrage: «Ich will nichts verändern an einem gut funktionierenden Körper», sagt Meier. Manche Männer, die er in seinen Coachings begleitet, sagen: «Ich mache keine Vasektomie, weil damit eine gewisse Essenz verloren gehen könnte.»
Für Männer-Coach Meier ist jedoch wichtig zu betonen, dass er niemandem vorschreiben will, welcher der richtige Weg ist. «Wichtig ist die Auseinandersetzung mit dem Thema und dass der Mann eine klare Entscheidung für sich treffen kann – dann ist es kraftvoll.»
Ein Akt der Gleichstellung
Soll man nun eine Vasektomie machen oder nicht? Das muss jeder Mann und jedes Paar individuell entscheiden.
In einer Langzeitbeziehung ist die Vasektomie als »sicherste Verhütungsmethode» gegen eine ungewollte Schwangerschaft durchaus eine Überlegung wert.
Nach meiner Erfahrung und Recherche zu diesem Thema komme ich zu dem Schluss: Man(n) kann die Unterbindung auch als Akt der Gleichstellung sehen. Gerade wenn ein Paar gemeinsame Kinder hat, musste die Partnerin körperlich schon viel auf sich nehmen – die Vasektomie gibt dem Mann die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen.