«Magst du dich selbst?» Das ist die erste Frage, die «The Sadness Book» seinen Lesern stellt. Die Seite darunter ist leer. Der Platz ist den eigenen Gedanken gewidmet, die aufgeschrieben werden sollen. Doch sie bleiben nicht lange.
Denn blättert man um, soll die Seite ausgerissen und weggeworfen werden. Ein paar Seiten später geht es noch weiter: Man soll die negativen Gedanken verbrennen.
Toxische Positivität
«Es ist okay, auch einmal nicht dankbar für etwas zu sein. Es ist okay, auch einmal traurig zu sein», sagt der Göppinger Autor Elias Baar. Journale gäbe es viele, jedoch verlangen diese oftmals, nur Positives über einen selbst und das eigene Leben aufzuschreiben, so Baar.
«Toxische Positivität» nennt er diesen Zwang, aus jeder Situation etwas Positives zu ziehen. Sein Buch gebe den Menschen einen Raum, sich mit schwierigen Situationen auseinanderzusetzen. Es sei okay, wenn es einem auch einmal nicht gut gehe.
Die perfekte Plattform
Mit seinem Ansatz trifft der 20-Jährige einen Nerv. Millionen Menschen hat der Autor online erreicht. Auf seinem Account postet er kurze Videos, in denen er das Buch anwendet. Fünf Sekunden dauern die digitalen Lesungen meist. Für Tiktok ist das die perfekte Dauer.
Die Plattform funktioniert visuell, schnelllebig und erfordert keine grosse Aufmerksamkeitsspanne. Was sich nicht direkt erklären lässt, kann auf Tiktok schwer vermittelt werden. «The Sadness Book» bedient genau dieses Prinzip. Gleichzeitig passe das Buch auch inhaltlich perfekt zu Tiktok. Dies sei die erste Social-Media-App, in der sich mehr über persönliche Themen wie Depression ausgetauscht werde, sagt Baar.
Gefährlicher Seiltanz
Doch das Buch kommt ohne Beipackzettel. Am Ende fügt Elias Baar lediglich drei Quellen an, die seine Methode bestätigen.
Doch diese Art der unbegleiteten Selbsttherapie berge Gefahren, warnt etwa die Entwicklungspsychologin Lucia Gasparovicova von der Uni Basel. Sie forscht zum Thema Emotionsregulation und gibt zu bedenken, dass das Aufarbeiten negativer Emotionen zwar helfen könne. Die Konfrontation mit den eigenen Traumata versetze Menschen aber teilweise in diese zurück.
Die Folgen seien meist nicht abzusehen. Sie können von Panikattacken bis hin zu emotionalen Zusammenbrüchen reichen. Dafür gebe das Buch keine Antwort, ausser alles von sich zu werfen.
Fehlende Alternativen
Oftmals bleiben Jugendliche mit ihren Problemen allein. Bereits 2016 kam eine vom Bundesamt für Statistik in Auftrag gegebene Studie zu dem Schluss, dass es schweizweit massiv an Therapieplätzen für junge Menschen fehle. Seit der Pandemie würden die Zahlen benötigter Plätze nur steigen, während das Angebot schleppend ausgebaut wird.
«Viele Menschen trauen sich nicht, eine Therapie in Anspruch zu nehmen», sagt Baar. Wegen der fehlenden Therapieplätze – oder den fehlenden finanziellen Mittel dafür.
Eine Studie der Unisanté Lausanne und UNICEF kam 2021 sogar zu dem Schluss, dass weniger als die Hälfte der jungen Befragten ein Angebot der psychosozialen Versorgung aufsuche. Lediglich drei Prozent wenden sich an Fachleute aus dem Gesundheits- oder Bildungsbereich.
Genau dort setzt Elias Baar mit «The Sadness Book» an. Auch, wenn es keine geleitete Psychotherapie ersetzen kann, so erreicht sein Buch doch Millionen.