Für den Grossteil der Bevölkerung ist die Corona-Pandemie vorbei, das Leben geht wieder seinen gewohnten Gang. Doch bei vielen Jugendlichen haben die zwei Jahre Spuren hinterlassen, die zum Teil nachhallen. Tausende Minderjährige sind hierzulande aktuell psychisch so belastet, dass sie professionelle Hilfe brauchen.
Während der Pandemie ist die Zahl nochmals gestiegen, auf aktuell rund 300'000. Damit hat sich ein bestehendes Problem verstärkt: Es gibt schweizweit zu wenig Therapieplätze für psychisch kranke Kinder und Jugendliche. Zu diesem Schluss kam bereits 2016 eine vom Bundesamt für Gesundheit in Auftrag gegebene Studie.
Auf eine Krise folgt die nächste
In der Ostschweiz müssen betroffene Kinder und Jugendliche zum Teil mehrere Monate auf einen Therapieplatz warten. Die Situation habe sich nach der Pandemie zwar leicht entspannt, sagt Bruno Rhiner, Chefarzt der Thurgauer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Aber sie sei nach wie vor sehr schwierig.
Schliesslich sei nach der einen Krise gleich die nächste gekommen: Nach der Pandemie kam der Krieg. Zukunftsängste und allgemeine Verunsicherung dauern darum an. «Der optimistische Lebensentwurf vieler Jugendlicher ist nach wie vor stark durchbrochen», sagt Rhiner.
Dass es aktuell zu wenig Therapieplätze für psychisch belastete Kinder und Jugendliche gibt, spürt man auch beim Schulpsychologischen Dienst des Kantons St. Gallen. Letztes Jahr meldeten sich im Vergleich zum Vorjahr 10 Prozent mehr für eine psychologische Beratung an. Zwar gebe es jetzt wieder leicht weniger Neuanmeldungen, sagt der Direktor des Schulpsychologischen Diensts, Ralph Wettach. «Aber jene Kinder und Jugendlichen, die während der Pandemie Hilfe brauchten und lang auf einen Therapieplatz warten, leiden immer noch.»
Politik handelt verschieden schnell
Auf politischer Ebene ist das Problem zwar erkannt. Vorwärts geht es aber in unterschiedlichem Tempo. Die Thurgauer Regierung etwa beschloss im April, das Angebot auszubauen. Zum einen wurde die Anzahl Betten für eine stationäre Behandlung in der Jugendpsychiatrie erhöht. Ab 2023 soll zudem ein ambulantes Kriseninterventionsteam im Einsatz stehen. «Dieses Team muss aber zuerst aufgebaut werden», sagt Bruno Rhiner. Das brauche Zeit – und das richtige Personal. Gerade der Mangel an Fachkräften sei ein grosser Teil des Problems, heisst es kantonsübergreifend.
Nicht ganz so eilig hat man es im Kanton St. Gallen. Die aktuelle Planung des Gesundheitsdepartements für den Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie stammt aus den Jahren 2012 und 2014. Auf Anfrage, ob man Massnahmen gegen den Mangel an Therapieplätzen treffe, verweist der Kanton auf eine einjährige Antwort der Regierung auf einen parlamentarischen Vorstoss: Eine neue Planung sei für das Jahr 2023 vorgesehen, inklusive Analyse der bestehenden Strukturen und allfälligen neuen Massnahmen. Geplant ist ein Neubau der stationären Krisenintervention im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Zentrum, der aber frühestens im Jahr 2024 den Betrieb aufnehmen kann.
Für alle Beteiligten ist klar: Die angespannte Situation dürfte anhalten. Der Schulpsychologische Dienst des Kantons St. Gallen formuliert es so: «Leider ist im Kanton St. Gallen, aber auch schweizweit, keine rasche und deutliche Verbesserung dieser ungenügenden psychotherapeutischen Versorgungslage absehbar.»