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Wie lässt sich der Kreislauf von Trauma und Gewalt durchbrechen?
Aus Sternstunde Philosophie vom 06.10.2024.
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Trauma und Therapie Es gibt kaum Täter ohne eigene seelische Wunden

Kriege, Flucht, Mobbing: Traumata führen oft zu neuer Gewalt, wenn man sie nicht aufarbeitet. Eine erstaunlich einfache Therapieform verspricht nun, diesen Kreislauf zu durchbrechen.

Maggie Schauer hat als Psychologin schon viel Schreckliches gesehen. Sie ist Expertin für die Behandlung von Traumafolgestörungen und reiste rund um den Globus. Sie besuchte Krisen- und Kriegsgebiete. Sie sprach mit Überlebenden von Naturkatastrophen und ehemaligen Kindersoldaten.

Frau in schwarzem Anzug mit weissem Schal, dunkler Hintergrund.
Legende: Die Psychologin Maggie Schauer sagt: «Trauma geht uns alle an.» SRF

Geprägt von diesen einschneidenden Erlebnissen entwickelte Schauer gemeinsam mit Kollegen von der Universität Konstanz eine neue Behandlungsmethode: die Narrative Expositionstherapie (NET). Das Ziel: Betroffene sollen im geschützten Rahmen die traumatischen Erlebnisse erzählen und durch den Therapeuten im Erzählten bestätigt werden. Um zu verarbeiten, muss den Betroffenen Glauben geschenkt werden.

Kann die Narrative Expositionstherapie, die «einfachste Psychotherapie der Welt», wie Schauer ihr Buch zur Methode betitelt, helfen, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen?

Kein Täter ohne eigene Gewalterfahrung

Traumata sind seelische Wunden. Ihr Ursprung: schwer belastende Erlebnisse in der Vergangenheit. Körperliche Gewalt kann ein Auslöser sein, ebenso wie Kränkungen oder Mobbing. Traumatische Momente sind immer verbunden mit extremer Angst und Hilflosigkeit. Sie betreffen entsprechend häufig Kinder, die sich nicht zu wehren wissen.

Traumatisierungen sind viel verbreiteter als wir meinen.
Autor: Maggie Schauer Psychotraumatologin

Viele Menschen machen solche Erfahrungen im Verlauf ihres Lebens. Wer aber wiederholt Opfer wird, kann eine Traumafolgestörung entwickeln. Nicht selten gehen solche Störungen mit Aggressivität einher, sich selbst oder anderen gegenüber.

Für Maggie Schauer ist deshalb klar: Traumaprävention ist Gewaltprävention. Sie stützt sich dabei auf Daten der letzten 50 Jahre, die zeigen: Es gibt kaum Täter, die nicht selbst Gewalt erlebt haben. Der Psychopath, der grundlos Gewalt ausübt, ist die absolute Ausnahme.

Die NET setzt deshalb auf die Aufarbeitung der Vergangenheit. Betroffene sollen erkennen, welche traumatischen Erlebnisse sie geprägt haben. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht nur die eigene Kindheit, sondern auch die Erfahrungen der Eltern und Grosseltern.

Wer eine geborgene Kindheit erlebt hat, kann Naturkatastrophen oder Fluchtsituationen später besser bewältigen, ist überzeugter davon, aus schwierigen Situationen selbst herausfinden zu können.

Illustration von trauriger Person im Regen unter dunklen Wolken.
Legende: Der Begriff Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet «Wunde». IMAGO / Panthermedia

Doch auch Resilienz hat ihre Grenzen: Was uns nicht umbringt, macht uns nicht stärker, so Schauer, sondern führt zu erhöhter Verletzlichkeit. Also zum Risiko, beim nächsten belastenden Lebensereignis zu brechen.

Niemand, der 28 Trauma-Arten erlebt hat, bleibt ohne manifeste psychische Störung.
Autor: Maggie Schauer Psychotraumatologin

Bezeichnend: eine Studie mit über 3500 Teilnehmern. Sie zeigt, dass vor allem die Anzahl erlebter Traumata entscheidend ist, ob eine Folgestörung entsteht. Schauer erklärt: «Einige Menschen bleiben nach acht oder neun traumatischen Erlebnissen noch immer resilient. Aber niemand, der 28 Trauma-Arten erlebt hat, bleibt ohne manifeste psychische Störung.»

Die einfachste Psychotherapie der Welt?

Die Studie verdeutlicht: Wir alle können eine Traumafolgestörung entwickeln. Entscheidend sind nicht nur die Schwere der Erlebnisse, sondern vor allem, wie häufig sie vorkommen. Die entsprechende Theorie heisst: Building Block Theorie. Je mehr Trauma-Bausteine, desto grösser die Chance für eine Folgeerkrankung.

Besonders vulnerabel sind Menschen, die bereits in der Kindheit traumatisiert wurden. Wer von den eigenen Eltern vernachlässigt oder misshandelt wurde, ist oft sozial weniger gefestigt und anfälliger für Mobbing.

Ein Teufelskreis, der sich auch in der späteren Partnerwahl zeigt: Frauen, die von ihren Partnern gewalttätig behandelt werden, haben häufig bereits zuvor Gewalt erlebt, erklärt Schauer. Auch deshalb gilt: Traumatisierte Menschen sind in der Regel nicht so sehr Gefährder, sondern selbst gefährdet.

Schon ein offenes Ohr hilft viel

Doch über vergangene Traumata zu sprechen, fällt vielen Betroffenen schwer. Sie haben Gedächtnisstörungen und Schamgefühle – verdrängen die schweren Momente.

Statt zu reden, verletzen sich viele selbst oder entwickeln eine Alkoholsucht. Diese Sprachlosigkeit ist ein Problem, zumal wir Traumatisierungen nicht ohnmächtig gegenüberstehen. Ein offenes Ohr kann bereits helfen.

In der NET werden die Betroffenen deshalb sehr behutsam an ihre dunklen Erlebnisse herangeführt. Ein zentrales Werkzeug dabei: ein Seil, das die Lebenslinie visualisiert. In ihr wird Schritt für Schritt die Vergangenheit rekonstruiert.

Steine dienen als Symbol für schwere Erlebnisse wie elterliche Trennungen oder Folter, während Blumen für positive Ereignisse wie Liebeserfahrungen oder berufliche Erfolge stehen. Stöcke wiederum markieren Momente, in denen der Patient selbst Gewalt ausgeübt hat.

Hand arrangiert Seil und Gegenstände auf Teppich und Erde.
Legende: Die Narrative Expositionstherapie (NET) ist einfach. Auf einer Schnur werden die Stellen im Lebenslauf markiert, an denen Traumata stattfanden – etwa mit einem Stock oder einem Stein. SRF

Die Therapeutin notiert dabei alles minutiös auf – alles wird genau festgehalten. In der nächsten Sitzung liest sie diese Protokolle vor und fungiert dabei als Beobachterin.

Zeugenschaft als Mittel gegen Traumata also – Ein Ansatz, der aus den Befragungen von ehemaligen politischen Gefangenen des Pinochet-Regimes in Chile stammt. Dabei wurden die Erlebnisse der Folterüberlebenden ursprünglich nur für politische Zwecke auf Tonband aufgenommen.

Wir haben einen Mangel an Fachpersonal.
Autor: Stephanie Karrer Psychologin

Unerwartet stellte man fest, dass die Traumasymptome durch die Befragung abnahmen. Schauer erklärt: «Die Folterüberlebenden legten Zeugnis über ihre traumatischen Erfahrungen ab, was zu einer Verringerung ihrer posttraumatischen Symptome führte.»

Die Opfer erkannten: jetzt weiss jemand Bescheid. Ich bin nicht mehr nur ein Opfer, sondern jemand setzt sich für mich ein.

Laienhelfer und Fragebögen

Es ist mittlerweile bekannt, was zur Verarbeitung von Traumata hilft. Doch es fehlt an psychologischem Fachpersonal. Ein Problem auch für die Schweiz, erklärt die Psychologin Stephanie Karrer: «Es gibt nicht genug Menschen, die eine Psychotherapieausbildung absolvieren. Dafür ist ein Studium erforderlich – ein teurer und anspruchsvoller Werdegang, der viel Engagement erfordert.»

Die NET ist deshalb bewusst einfach konzipiert. Nach entsprechender Schulung kann sie auch von Personen ohne universitäre Ausbildung durchgeführt werden, sei es in Krisengebieten oder in Aufnahmeländern.

Eine weitere Möglichkeit: die Einbindung von Erkenntnissen der Traumaforschung in das Gesundheits- und Migrationssystem. Wie bei einem Virus können sich Traumata verbreiten.

Auch deshalb gilt: Das Wissen, wie viele traumatische Erlebnisse im Umlauf sind, ist eine wertvolle Information. Junge Mütter könnten etwa von Hebammen befragt werden, um traumatische Familiengeschichten frühzeitig zu erkennen. Gleiches gilt für Opfer von Krieg und Vertreibung.

Vor 20 Jahren gab es 60 Millionen Flüchtlinge. Heute sind es 110 Millionen, erklärt Schauer. Das Thema verschwinde nicht, wir alle seien global vernetzt, auch die Schweiz und Deutschland.

Mit Fragebögen kann die Dunkelziffer bereits bei der Aufnahme erkannt werden – der Kreislauf von Trauma und Gewalt wird frühzeitig gestoppt. Schauers Arbeit verdeutlicht: Weder als Individuum noch als Gesellschaft sind wir Traumatisierungen hilflos ausgeliefert. Wir können etwas dagegen tun.

Buchhinweis

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Maggie Schauer: «Die einfachste Psychotherapie der Welt. Wie wir die Ursache von Stress und Krankheit behandeln und den Kreislauf von Trauma und Gewalt durchbrechen.» Rowohlt, 2024.

SRF 1, Sternstunde, 6.10.2024, 11:00 Uhr.

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