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Erste globale Schätzungen zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder
Aus SRF 4 News aktuell vom 10.10.2024. Bild: UNICEF / UN0441498 / Tremeau
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Unicef-Bericht Bericht zur sexualisierten Gewalt mit erschreckenden Zahlen

Gemäss Unicef-Bericht erlebt weltweit jedes achte Mädchen eine Vergewaltigung oder einen sexuellen Übergrifff. Expertin Agota Lavoyer ordnet den Bericht ein.

Das zeigt der Unicef-Bericht: Der Bericht spricht davon, dass jedes fünfte Mädchen von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Jedes achte Mädchen hat demnach eine Vergewaltigung oder einen sexuellen Übergriff erlebt. Das sei der globale Durchschnitt. Die Zahlen sind einerseits sehr erschreckend, anderseits sind sie nicht neu, wie die Expertin für sexualisierte Gewalt und Opferberatung, Agota Lavoyer, sagt. Neu sei, dass es jetzt eine globale Auswertung gebe. Doch das Ausmass sexualisierter Gewalt an Kindern sei bekannt, sagt Lavoyer, welche einen Ratgeber zu sexualisierter Gewalt geschrieben hat. Das zeigen bereits Zahlen aus Länderstudien, aber auch von der Welt­gesundheits­organisation.

Auch Jungen und junge Männer betroffen

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Auch Jungen und junge Männer sind von sexualisierter Gewalt betroffen, wie Unicef weiter berichtet. Schätzungsweise 240 bis 310 Millionen Jungen – etwa jeder Elfte – hätten in ihrer Kindheit Vergewaltigung oder sexuelle Übergriffe erlebt. Diese Zahl steigt auf schätzungsweise 410 bis 530 Millionen, wenn kontaktlose Formen der sexualisierten Gewalt miteinbezogen werden.  

Allerdings gibt es Datenlücken, insbesondere zu den Erfahrungen von Jungen sowie zu den nicht-körperlichen Formen sexualisierter Gewalt. Daher sind mehr Investitionen in die Datenerfassung notwendig, um das volle Ausmass sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu erfassen.

Den Daten zufolge ereignet sich die meiste sexualisierte Gewalt an Minderjährigen während der Adoleszenz, mit einem deutlichen Anstieg zwischen 14 und 17 Jahren.

In diesen Regionen gibt es am meisten Betroffene: In der Subsahara oder in Ost- und Südostasien gibt es am meisten Betroffene. An dritter Stelle erwähnt der Bericht mit ähnlich hohen Zahlen Europa und Nordamerika. Für Lavoyer ist es wichtig, dass dies aufgeschlüsselt ist. Man erkenne daran, dass sexualisierte Gewalt an Kindern nicht nur andere Regionen oder andere Länder betreffe, sondern tatsächlich überall auf der Welt ausgeübt werde, auch mitten in unserer Gesellschaft.

Verschiedene Gründe für sexualisierte Gewalt: Man müsse mit Mythen, mit falschen Annahmen über sexualisierte Gewalt an Kindern aufräumen, sagt die Expertin: «Die Gesellschaft geht immer davon aus, dass all diese Tatpersonen pädosexuelle Neigungen haben und dass dies die Ursache für sexualisierte Gewalt an Kindern ist.» Tatsächlich sei es aber so, dass der viel grössere Teil der Gewalt gesellschaftlich bedingte Ursachen habe und sich nicht bloss mit der pädosexuellen Neigung oder einer Neigung erklären lasse. Sexualisierte Gewalt gegen vermeintlich schwächere oder wehrlose Menschen – also auch gegen Kinder – sei vielmehr Ausdruck patriarchaler Geschlechterverhältnisse.

Subtile Grenzverletzungen

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Grenzverletzungen kommen in verschiedenen Kontexten vor und hier müsse man ein Bewusstsein schaffen, so Lavoyer.

Da sei zum Beispiel der obligate Kuss, den man den Grosseltern geben muss, um Hallo oder Danke zu sagen. Oder dicke Kinder, die schon sehr früh erfahren, dass scheinbar ihre Körper abgewertet werden dürfen oder sie ihrem Hungergefühl nicht vertrauen dürfen. Beispielsweise wird auch Schwarzen Kindern ungefragt in die Haare gefasst.

Das seien alles subtile Grenzverletzungen, die dazu führten, dass Kinder auch bei uns verlernten, auf ihren Körper zu hören – und nicht lernten, wo ihre eigenen Grenzen liegen.

Das sind Risikofaktoren für sexualisierte Gewalt: Grundsätzlich kann sexualisierte Gewalt jedes Kind betreffen. Es gibt aber Risikofaktoren, die sogenannten fragilen Settings. Einerseits wisse man, dass Kinder, die bereits Gewalt in der Erziehung erfahren haben und im Glauben aufgewachsen seien, dass Gewalt und Liebe zusammengehörten, ein höheres Risiko haben, sexualisierte Gewalt zu erfahren, so Lavoyer. Dann seien auch vernachlässigte Kinder oder Kinder mit grosser Bedürftigkeit gefährdet.

Person gibt einem Teddybär ein rotes Herz mit Aufschrift 'LOVE YOU'.
Legende: Der Unicef-Bericht zeigt auch, dass seit Jahren sexualisierte Gewalt an Kindern, aber auch an Frauen, eine globale Krise ist. Unicef/Joseph

Weiter seien Kinder, die sehr abhängig sind, zum Beispiel auch behinderte Kinder oder wenig sozial integrierte Kinder gefährdet. Hier muss man sich laut Lavoyer bewusst sein: «Tatpersonen gehen enorm strategisch und höchst manipulativ vor.» Sie wählten die Kinder oder die Familien gezielt aus.

Das braucht es für einen besseren Schutz

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Der Nationalrat hat im September sechs Motion angenommen, die verbindliche, standardisierte Schutzkonzepte für Einrichtungen und Institutionen, in denen Kinder und Jugendliche leben, fordern. Das ist laut Lavoyer enorm wichtig. Es sei eigentlich erschreckend, dass es in der Schweiz immer noch möglich sei, eine Einrichtung zu führen ohne Schutzkonzept.

Es braucht Präventionskampagnen in den Schulen. Das sei der Ort, wo man alle Kinder erreichen könnte. «Es braucht eine viel bessere Sexualpädagogik, die den Namen wirklich verdient», sagt die Expertin. Momentan gehe es meistens nur um biologische Aufklärung und Verhütung.

Kinder und Jugendliche müssten aber über sexualisierte Gewalt aufgeklärt werden, sonst hätten sie nicht einen Hauch einer Chance, überhaupt zu erkennen, wo ihre Grenzen seien und was grenzverletzend sei, erklärt Lavoyer weiter. Nicht zuletzt brauche es dringend mehr Ressourcen für Beratungsstellen.

So ist die Situation in der Schweiz: «In der Schweiz weiss man von Fällen, wo sich Täter absichtlich oder strategisch Quartiere auswählen, in denen viele Menschen in prekären Situationen leben oder Kinder, die vernachlässigt werden.» Der Bund hat Prävalenz-Studien zu sexualisierter Gewalt in Aussicht gestellt. Lavoyer hofft, dass dort auch das Thema Kinder und Jugendliche, also minderjährige Betroffene, mit einbezogen wird, damit die Prävention verbessert werden kann.

Präzisierung

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Dieser Artikel wurde am 14. Oktober um die Angaben zu den betroffenen Jungen und jungen Männer ergänzt.

SRF 4 News, 10.10.2024, 16:40 Uhr ; 

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