«Das ist vielleicht ungewöhnlich, aber ich habe schon als Kind Berichte über Verbrechen aus Zeitungen ausgeschnitten und nach ähnlichen Tätertypen kategorisiert.» Ungewöhnlich: ja. Mit der Faszination für Verbrechen steht Lydia Benecke aber nicht alleine da.
Die Psychologin kennt das Böse berufsbedingt. Seit 12 Jahren therapiert sie verurteilte Gewalt- und Sexualstraftäter. Daneben schreibt Benecke Bücher, hält Vorträge und ordnet Verbrechen in TV-Sendungen psychologisch ein.
Ein Millionen-Publikum hat seine Lust an realen Verbrechen wiederentdeckt: dem Erfolgsgenre «True Crime» sei Dank. In der Schweizer Netflix-Hitliste vom letzten Jahr sind unter den zehn beliebtesten Dokumentationen gleich drei Filme, die sich mit Verbrechen beschäftigen.
Als Auslöser des derzeitigen Booms gilt der US-Podcast «Serial» von 2014, der den Mord an einer Studentin neu aufrollte.
Mittlerweile gibt es auch erfolgreiche Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum: «Zeit Verbrechen» ist auf Platz drei der meistgestreamten Spotify-Podcasts Deutschlands.
Woher kommt dieses Interesse für das wahre Böse? Einerseits sind wir evolutionär so gestrickt, dass unser Gehirn sich Gefahren zuwendet, erklärt Benecke. Unser Lustsystem wird aktiviert.
Wut, Rache, Gier, Eifersucht: Das True Crime-Genre lebt von starken Emotionen. Wir gruseln uns gern – aber aus sicherer Distanz. Andererseits fesselt True Crime, weil es echte Verbrechen und reale Personen sind.
In die Verbrecherseele hineinschauen
«Ein Täter hat mir erklärt, er habe verschiedene Seiten, so wie ein Würfel. Er sei entweder in der Rolle des Vaters oder in der Rolle des Mörders», sagt Benecke.
Das sei der Hauptgrund für den aktuellen Boom von True Crime-Formaten, so Beneckes Urteil. Die Fans wollen verstehen: Wie wird ein Mensch zur Mörderin und was unterscheidet mich von ihr?
«Den einen Täter gibt es nicht», klärt Benecke auf. Oft vermischen sich mehrere Risikofaktoren, «etwa wenn jemand wenig mitfühlt oder wenig Angst hat vor negativen Folgen». Sind diese Eigenschaften stark ausgeprägt, können sie zu Störungen werden – im extremsten Fall: eine psychopathische Störung.
«Vor 200 Jahren gab es viel mehr Ehefrauen, die ihre Gatten töteten, wenn sie ihre Ehe als ausweglos empfanden.» Der Grund: Frauen hätten sich nicht scheiden lassen können. Sie wären finanziell und gesellschaftlich ruiniert gewesen. «Situative Faktoren können die Wahrscheinlichkeit erhöhen.» Trotzdem, so Benecke, wird nicht jeder zum Mörder.
Weibliche Faszination
Zahlen zeigen, dass es eine Gruppe gibt, die besonders angetan ist von Mord und Totschlag: Frauen. 81 Prozent der Lesenden des Kriminalmagazins «Stern Crime» sind weiblich.
Das gleiche Bild zeigt sich bei Lydia Beneckes Vorträgen und bei den Nutzungsdaten verschiedener englischer True Crime-Podcasts: zwei Drittel sind Frauen.
Über die Gründe kann Benecke nur mutmassen, da verlässliche wissenschaftliche Studien fehlen: «Frauen scheinen sich mehr für Psychologie zu interessieren. Die Beschäftigung mit Verbrechen ist ein Sub-Genre der Beschäftigung mit der Psyche des Menschen.»
Viele hören, lesen und schauen True Crime, um herauszufinden, wie ein Mensch etwas scheinbar Unmenschliches tun kann. Ob für sie eine Tat auch schon völlig unbegreiflich schien? Nein, sagt Lydia Benecke, auch wenn sie «jede Art von Grausamkeit schon gehört und gesehen» hat.
Verbrechen gehörten zur Menschheit – ähnlich wie unser Interesse daran.