Aziz Abu Sarah war neun Jahre alt, als eines Nachts israelische Soldaten ins Zimmer von ihm und seinen vier Brüdern drangen und den ältesten unter Protest der Mutter mitnahmen. Er hätte Steine auf Soldaten geworfen, hiess es, deshalb müssten sie mit ihm sprechen.
Der Bruder war mehrere Wochen unauffindbar. Später fand die Familie heraus, dass er verurteilt wurde und in einem Gefängnis sitzt: «Kurz vor Ablauf eines Jahres wurde er entlassen. Er wurde gefoltert, um ein Eingeständnis zu erwirken.» Bei seiner Entlassung hätte er bereits im Sterben gelegen, erzählt Abu Sarah. Kurz darauf erlag er seinen Verletzungen.
Acht Jahre lang sei Rache das Einzige gewesen, was ihn interessierte, so Abu Sarah. Er stieg in die Politik ein und schrieb Pamphlete, für die er lange Gefängnisstrafen hätte erhalten können. «Ich engagierte mich in der Jugendbewegung der Fatah, wurde gar Jugendführer. Meine ganze Welt drehte sich um Politik.»
Jedes Mal, wenn ich mich entschied, zu hassen, war dies eine Reaktion auf die Tat dieser Person.
Aus beruflichen Gründen beginnt er später Hebräisch zu lernen, das er während der Schulzeit im Unterricht immer verschmähte, weil es die Sprache des Feindes sei.
Freiheit statt Rache
Dort trifft er erstmals in seinem Leben auf Juden, die weder Soldaten noch Siedler und auf Augenhöhe mit ihm sind: «Es war meine erste wirkliche Begegnung mit Juden als Studenten, Mitschüler oder Lehrer. Diesen gegenseitigen Kontakt haben die wenigsten Palästinenser und Israeli. Wir leben sehr segregiert.»
Er erkannte zwei Dinge, die sein Leben veränderten: «Ich habe die Wahl, ob ich mich weiterhin von der Person, die meinen Bruder getötet hatte, versklaven lassen wollte. Jedes Mal, wenn ich mich entschied, zu hassen, war dies eine Reaktion auf die Tat dieser Person.»
Man könne nicht kontrollieren, was andere Menschen tun, aber die eigene Reaktion darauf sei lenkbar, so Abu Sarah. Er entschied sich für die Freiheit: «Ich wollte meine eigenen Entscheidungen treffen und nicht länger zulassen, dass mein Leben von dieser Person bestimmt wird.»
Reisen für den Frieden
Abu Sarah schwört nicht nur der Rache ab und vergibt den Tätern, er setzt sich auch aktiv für Frieden im Nahen Osten ein. 2009 gründete er ein Reiseunternehmen, mit dem Ziel, Touristen aufzuzeigen, dass es immer mehrere Zugänge zur Realität gibt und jede Gegend und jeder Konflikt unterschiedliche Narrative bereithält. Diese gegenseitigen Geschichten zu kennen, helfe, den Weg zum Frieden zu ebnen.
Dank dieser Arbeit weiss ich, warum ich am Morgen aufstehe.
Seit der terroristischen Attacke der Hamas auf Israel und dem Krieg in Gaza intensivierte sich der Konflikt. Abu Sarah verliert Freunde auf beiden Seiten und beschliesst: So kann es nicht weitergehen. Zusammen mit zwei israelischen Freunden, die ihre Eltern bei der terroristischen Attacke der Hamas verloren haben, spricht er sich unermüdlich für den Frieden aus.
Sein Verlust – so tragisch er auch ist so tragisch er auch ist – hätte ihm eine sinnvolle Aufgabe gegeben, sagt Abu Sarah. «Dank dieser Arbeit weiss ich, warum ich am Morgen aufstehe. Ich spüre, dass ich etwas Gutes tue und weiss, dass wir etwas verändern.»