«Ich wünsche mir so sehr, dass es aufhört!» Timrah Schmutz, Schweizer Jüdin mit jemenitischen Wurzeln, beobachtet die derzeitige Eskalation im Nahen Osten – die Ausweitung des Krieges auf den Libanon und die Raketen aus dem Iran auf Israel – mit grosser Sorge.
«Ich habe Angst vor dem Worst-Case-Szenario und frage mich bei jeder Meldung: Wie sieht die Welt morgen früh aus?»
Seit einem Jahr begleiten die Nachrichten aus dem Kriegsgebiet die Jüdin mit Verwandten und Bekannten in Israel und den Palästinensergebieten. «Die Situation im Nahen Osten ist Teil meines Alltags, meiner täglichen Gedanken, Gefühle, Sorgen.» Sich davon zu distanzieren, sei schwer.
Das bestätigt auch Raschida Bouhouch, Schweizer Muslimin und Kinderärztin. Sie hat im letzten Jahr Konsequenzen gezogen: «Ich verzichte vollständig auf soziale Medien.» Die ständige Flut von Kriegsbildern, die ihr ohne Vorwarnung auf Plattformen wie Instagram begegneten, hat sie überfordert. «Bilder von verstümmelten und verschütteten Kindern im Gazastreifen: Das war zu viel für mich.»
Antisemitische und antimuslimische Vorfälle häufen sich
Auch Freundschaften gingen zu Bruch, weil das Verständnis fehlte, die Polarisierung zu gross war. Die derzeitige Eskalation wecke nun Erinnerungen an die Tage und Wochen nach dem 7. Oktober 2023. «Ich habe Angst, dass diese Eskalation Auswirkungen hat auf uns hier in Europa», sagt Raschida Bouhouch.
Das kommt nicht von ungefähr: Der Krieg im Nahen Osten hat auch in der Schweiz Folgen. Die Zahl der antisemitischen Vorfälle hat ebenso zugenommen wie die Zahl der antimuslimischen.
Raschida Bouhouch erzählt von Übergriffen auf Musliminnen mit Kopftuch, Timrah Schmutz von jüdischen Freunden, die den Davidstern nicht mehr in der Öffentlichkeit tragen oder die Mesusa, die das Haus als jüdisches Haus kenntlich macht, vom Eingang entfernen.
«Miteinander geht es einfach besser»
Die Polarisierung hat zugenommen. Das erleben die Muslimin und die Jüdin in ihrem Alltag. Doch statt sich dieser Spaltung hinzugeben und sich in ihre Gemeinschaft zurückzuziehen, haben sie einen anderen Weg gewählt: Sie sind Mitglied bei «gemeinsam einsam», einer jüdisch-muslimischen Whatsapp-Gruppe.
Indem ich am Schmerz des anderen Anteil nehme, heile ich auch mich selbst.
«Nach dem 7. Oktober fühlte ich mich total allein», erzählt Timrah Schmutz. «Dann habe ich aber schnell gemerkt: Es gibt viele wie mich, die die Menschen ins Zentrum stellen und Empathie haben.» Das habe ihr Kraft gegeben. «Miteinander geht es einfach besser», ergänzt Raschida Bouhouch. «Für mich sind diese Gespräche sehr heilsam, weil ich merke: Indem ich am Schmerz des anderen Anteil nehme, heile ich auch mich selbst.»
Bedürfnis nach Empathie
Beide sind überzeugt: Es braucht mehr Gespräche, nicht nur unter Muslimen und Jüdinnen, sondern in der gesamten Gesellschaft. «Von muslimischer und palästinensischer Seite höre ich oft: ‹Wir werden einfach nicht gesehen›», sagt Raschida Bouhouch, deren Vater aus Marokko in die Schweiz eingewandert ist.
Auf beiden Seiten sterben Menschen.
«Das Gefühl, dass nicht jedes Menschenleben gleich viel wert ist, nicht jedes Kind gleich viel wert ist – das schmerzt sehr. Denn diese Kinder, die wir sterben sehen, die sehen aus wie wir.»
Der Konflikt sei auf beiden Seiten mit vielen Traumata verbunden, betont Timrah Schmutz – der Holocaust auf jüdisch-israelischer, und die Nakba, die Vertreibung der Palästinenserinnen und Palästinenser, auf der anderen Seite. «Auf beiden Seiten sterben Menschen.»
Umso wichtiger sei es, jetzt aufeinander zuzugehen. Nur wie? «Solange man bereit ist, empathisch zuzuhören, kann man eigentlich alles fragen», sagt Timrah Schmutz.
Wichtig sei es, offen zu sein und keine vorgefertigten Meinungen mitzubringen, rät Raschida Bouhouch. «Die Frage ist ja, wie lerne ich einen jüdischen Menschen kennen oder einen muslimischen? Das beginnt im Umfeld, vielleicht beim Arbeitskollegen oder bei der Nachbarin. Einfach mal nachfragen, wie es ihnen geht, mit einem Lächeln und ohne Vorurteile.»
Menschenrechte im Fokus
Beide plädieren dafür, die Menschen ins Zentrum zu stellen. «Wir brauchen keine Fanclubs, sondern Menschen, die sich für Frieden und Menschenrechte einsetzen», betont Timrah Schmutz. Diese Menschenrechte seien auch als Reaktion auf den Holocaust entstanden. «Nun ist die Zeit, bedingungslos für sie einzustehen», sagt die Jüdin.
Ein Gänsehautmoment für Raschida Bouhouch: «Genauso ist es. Wir müssen für die Menschenrechte einstehen, überall. Aufstehen, ein bisschen Rückgrat zeigen und handeln.»