Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl war überzeugt: Den einen Sinn des Lebens gebe es nicht als solchen. Aber jede Situation, wie ausweglos sie auch scheine, berge eine Sinn-Möglichkeit in sich. Der Therapeut und Professor Alexander Batthyány hält Frankls Lehre in Krisenzeiten wie diesen für hochaktuell.
Viktor Frankl (1905 bis 1997) überlebte mehrere Konzentrationslager und schrieb darüber das Buch «Trotzdem Ja zum Leben sagen», das 1946 erschien und über neun Millionen Mal gedruckt wurde.
Dass Frankl, dessen Eltern, Bruder und Ehefrau von den Nationalsozialisten ermordet wurden, nach dem Krieg sagte, die Welt sei nicht «heil, aber heilbar», das findet Alexander Batthyány ganz ungeheuerlich: «in einem positiven Sinn».
Batthyány leitet das Viktor-Frankl-Institut in Wien, ist Therapeut und Professor, also in den Spuren Frankls unterwegs – auch wenn er dessen Fussstapfen nicht für sich reklamiert, da diese ihm zu gross erschienen.
Unsere Welt kann eine bessere werden
Und doch hat er sein Buch, das er 2023 mit der Frankl-Schülerin Elisabeth Lukas gemeinsam schrieb, nach diesem Zitat Frankls benannt: «Die Welt ist nicht heil, aber heilbar.» Darin vermitteln die beiden Logotherapeuten eine Haltung im Sinne Frankls: Dass nämlich unsere Welt, so gebrochen sie auch sein mag, eine bessere werden kann, wenn Menschen sich fragen, wozu sie gut seien. Nicht (nur) im grossen, sondern in den vielen kleinen Situationen des Lebens.
Ein gutes Wort, eine helfende Hand, aus der Überzeugung heraus, dass das Leben ein besseres ist, wenn es mit Blick auf das Aussen gestaltet wird, auf den und die andere. Im «Heil» klingt eine ganzheitliche Perspektive an, die auch im hebräischen «Shalom» steckt. Heilwerden, Ganzwerden: Das geht nicht allein – das geht nur in Gemeinschaft.
Wie entsteht Sinn?
Gerade in Krisenzeiten werde Menschen bewusst, worauf es wirklich ankommt, sagt Alexander Batthyány. Denn jetzt zeige sich, wie hart und urteilend ein Leben in dauerndem Wettbewerb sei. Und dass der Mensch dem anderen doch Gutes gönnen könnte.
Fast wie nebenbei würde er dann erleben, dass das eigene Leben sich sinnvoller und dadurch glücklicher anfühle. Es gebe nichts Schöneres, als am Ende des Lebens sagen zu können: «Gut, dass ich da war.»
Die Logotherapie, die Frankl begründete, geht vom Willen des Menschen aus, Sinn verwirklichen zu wollen. Logos ist Griechisch und kann nicht nur mit «Wort» oder «Lehre», sondern auch mit «Sinn» übersetzt werden. Dieser Sinn lässt sich laut Frankl in dreifacher Weise erfüllen:
- Indem der Mensch ein Werk schafft, also schöpferisch tätig ist.
- Indem er die Schönheit der Natur, eines Musikstücks, eines Menschen erlebt und geniesst.
- Im Leiden. Hier komme es entscheidend auf seine innere Einstellung, auf seine Haltung an.
Hoffnung in der Krise
Das Menschenbild der Logotherapie ist geprägt durch das biblisch-jüdische: Der Mensch wird als frei angesehen, in der Lage, sich immer wieder für das Gute zu entscheiden. Das führt ihn in die Verantwortung, das Leben entsprechend zu gestalten, sozusagen als Dank für das Geschenk des Lebens.
Der Mensch ist nicht Opfer seiner Umstände, sondern kann sich immer zu diesen verhalten. Dass Viktor Frankl dies sogar in mehreren Jahren KZ-Leben gelang, macht ihn glaubwürdig und fasziniert Menschen bis heute.
Besonders in Krisenzeiten ist die Logotherapie gefragt, erzählt Batthyány: Verlage wollen Frankl neu verlegen, es schiessen Frankl-Institute aus dem Boden, an die 150 seien es inzwischen weltweit.
Besonders in Krisenzeiten brauche es die Hoffnung. Diese definiert Batthyány als eine Art widerständige Kraft, die gegen jeglichen Anschein daran glaubt, dass die Dinge besser werden können – und dass jede und jeder daran einen Anteil haben kann.
Aufgehoben in der Vergangenheit
Sinn verwirklichen, das sei immer möglich, so Frankl. Auch am Ende des Lebens. Dafür sei entscheidend, wie das Leben bewertet werde. Als Schatz, oder als Verlust? Anstatt der Vergangenheit nachzutrauern, rief Frankl dazu auf, diese dankbar anzunehmen.
Alles, was gelebt, gesagt und getan wurde, sei nicht vorbei und verloren, sondern für immer aufgehoben, geborgen in der Vergangenheit. Bis zuletzt gebe es immer eine Möglichkeit, dem Leben Sinn abzuringen, so der Psychiater. Und sei es in der grundlegenden Haltung gegenüber dem, was war.
Aufruf zu mehr Barmherzigkeit
Doch alles hätte seine Zeit, sagt Alexander Batthyány. Wer nicht mehr selbst Sinn verwirklichen kann, etwa weil er todkrank ist, stelle eine Anfrage an seine Mitmenschen, sich ihm zuzuwenden. Erstaunlich sei, dass er selbst immer wieder beschenkt aus solchen Begegnungen gehe.
Der Frieden, den er im Hospiz erlebe, sei einzigartig. Hier müsse niemand mehr irgendetwas. Weder gut aussehen noch etwas Bestimmtes sagen, tun oder leisten. Das Sein als solches stehe im Mittelpunkt.
«Und ich wünsche mir oft, ich könnte diese unbedingte Annahme und Barmherzigkeit mitnehmen in die Welt ausserhalb des Hospizes», so der Therapeut. Auch wenn es absurd klinge, wolle er Menschen ermutigen, so menschlich wie möglich miteinander umzugehen.