Wir schreiben das Jahr 1953: In Bern fällt Vincent O. Carter auf. Viele haben nie einen Menschen schwarzer Hautfarbe gesehen. Generell halten ihn die meisten für einen Afrikaner.
In diesem Jahr ist der Kanton Bern seit 600 Jahren Teil der Eidgenossenschaft. Es gibt mehrere Feste. Tausende beobachten in den Gassen der Stadt Bern das Treiben, unter ihnen: Carter. Der 29-Jährige besucht Freunde, die im amerikanischen Konsulat arbeiten. Über München, Amsterdam und Paris ist er aus den USA angereist. Er hat eine regelrechte Odyssee hinter sich.
Geboren wird er am 23. Juni 1924 in Kansas City, Missouri. Als 17-Jähriger zieht ihn die US-Armee ein, drei Jahre später, 1944, landet er in der Normandie. Als GI (so wurden amerikanische Soldaten bezeichnet) wird er bei seinem Einzug in Paris begeistert gefeiert. Familien drängen ihn, er möge doch eine ihrer Töchter heiraten und in die USA mitnehmen. Dorthin kehrt er nach dem Zweiten Weltkrieg zurück – ohne eine dieser Töchter mitzunehmen.
Dank eines Militärstipendiums studiert er Literatur und Philosophie und kommt nach dem Studium wieder nach Europa. Paris empfängt ihn als Fremden, nicht mehr als Befreier. So reist er weiter nach Bern.
Die Menschen starren ihn an
Als Schriftsteller hält Carter fest, was er in Bern erlebt. In Restaurants, zum Beispiel im Mövenpick, seien den Leuten Messer und Gabeln aus der Hand gefallen bei seinem Anblick. Auf den Strassen sei es fast zu Auffahrunfällen gekommen, «weil die Fahrer damit beschäftigt waren, mich anzugaffen. Ich übertreibe nicht».
Er lebt vom Ersparten und von Bekannten, die ihn zum Essen einladen. Eher zufällig kommt er zum Radio und kann dort Sendungen über Schwarze Musik machen. Allerdings darf er nur Musikstücke vorstellen, die zum Stereotyp passen. Das befriedigt ihn nicht so richtig.
Ein Einkommen sichert ihm seine Arbeit als Englischlehrer in der Migros-Klubschule. Seine sanfte und offene Art kommt gut an: «Die Schülerinnen sind geschmolzen. Manchmal blieben sie über zehn Jahre bei ihm im Unterricht, auch als sie längst Englisch konnten», erzählt die heute 90-jährige Bernerin Liselotte Haas.
Posthumer Erfolg als Autor
Weniger erfolgreich verläuft Carters Autorenleben. Kaum jemand interessiert sich für seine Literatur. Er schreibt humoristisch überzeichnete Anekdoten mit melancholischem Unterton, Abhandlungen über Kunst in der Schweiz oder die «Sicherheitsfixiertheit» der Schweizer. Er entlarvt auch die fehlenden politischen Rechte der Frauen.
Erst 15 Jahre nachdem er das Manuskript fertig hat, wird sein «The Bern Book» auf Englisch veröffentlicht. Heute gilt es als literarisch-avantgardistisch für die Zeit. Damals interessiert es kaum. Die Sprachbarriere dürfte nicht geholfen haben, ein grösseres Publikum zu erreichen.
Carter gibt das Schreiben auf. Fortan widmet er sich der Malerei. Er hat offensichtlich Talent und kann bei einigen Ausstellungen mitmachen, etwa zusammen mit Meret Oppenheim im Kunstmuseum Bern. Als Künstler wird er nicht richtig anerkannt, dennoch habe er immer gezeichnet, sagt Liselotte Haas und ergänzt: «Für uns beide wurde dann die Spiritualität sehr wichtig.» Sie meditieren und reisen immer mal wieder nach Indien.
1983 wird bei ihm Kehlkopfkrebs diagnostiziert. Er stirbt am 23. Januar, mit nur 59 Jahren.