Die Familie Guggenheim steht wie kaum eine andere mit ihrem Namen für eine Kunstsammlung. Doch die Geschichte der weltberühmten Museen in New York, Venedig oder Bilbao beginnt im aargauischen Lengnau. Und sie beginnt ganz ohne Reichtum und Kunstsammlung.
Der Jude Simon Guggenheim rutscht Anfang des 19. Jahrhunderts in die Armut ab, nachdem er den Beruf aufgegeben hatte, um seine kranke Frau zu pflegen. Sohn Meyer Guggenheim erlebt mit sechs Jahren, wie seine Mutter stirbt. Er und die fünf Geschwister werden deshalb aufgeteilt und in fremden Familien untergebracht. Vater Simon erhält einen Vormund. Und Meyer versucht, ein klein wenig dazuzuverdienen. Nach der Schule ist er als Hausierer unterwegs.
«Das waren schwierige Zeiten im 19. Jahrhundert. Eine Zeit des Hungers», erklärt Roy Oppenheim. Der Kulturpublizist hat sich lange mit der jüdischen Geschichte Lengnaus befasst. «Der Kanton Aargau musste den Leuten mehrmals pro Woche Suppe ausgeben, um sie vor dem Hungertod zu schützen.»
Christen mischen sich in jüdisches Leben ein
Simon Guggenheim will nach dem Tod seiner Frau ein zweites Mal heiraten. Seine zweite Verlobte, die verwitwete Rachel Weil, würde zudem fünf Kinder in die Ehe mitbringen. Daher sind die christlichen Behörden der Auffassung, Simon Guggenheim werde nicht ausreichend für die Familie sorgen können.
«Man hat ihm die Hochzeit verboten, weil er angeblich zu arm gewesen sei», sagt Roy Oppenheim. «Es gab viele Gründe für das Veto, auch vorgeschobene.» Die Verlobte Rachel Weil, Simon Guggenheim und der inzwischen 19-jährige Sohn Meyer Guggenheim fassen deshalb einen Plan: Sie wollen nach Amerika auswandern. Denn in den USA gelten keine Einschränkungen für die Hochzeit. Dort, so die Hoffnung, würde die Familie auch ein wirtschaftliches Auskommen finden.
Auswandern der Armen war erwünscht
«Auswandern war ein Abenteuer. Damals waren vor allem Segelschiffe verfügbar, daher konnte die Überfahrt länger als einen Monat dauern», so Oppenheim. Das Abenteuer wurde zudem staatlich gefördert. «Die Schweizer Gemeinden haben das unterstützt. Gerade arme Menschen mussten für die Auswanderung oft Unterstützung beantragen.» Die Gemeinden ihrerseits hofften, arme Bürger durch eine einmalige Unterstützung loszuwerden. Zehntausende wanderten so aus.
Auch Meyer Guggenheim habe eine Unterstützung von der Gemeinde erhalten, sagt Oppenheim. «Aber die reichte nicht ganz.» Auch deshalb verzögert sich die Ausreise für einen Teil der Familie. «Am Morgen, als die Guggenheims abreisen sollten, ging es zwei Töchtern miserabel. Ihnen war schlecht», so Oppenheim. «Und dann haben sie die zwei einfach dagelassen.»
Der Grundstein für ihren American Dream
Der Rest der Familie reist ab. Vermutlich Anfang 1849 schiffen die Guggenheims und die Weils in Le Havre ein und verlassen Europa in Richtung USA. Dort kann Vater Simon Guggenheim Rachel Weil, seine zweite Frau, endlich heiraten. Auch Sohn Meyer hat nun Hochzeitspläne: Auf der Überfahrt verliebt er sich ebenfalls – und auch er will eine Weil heiraten: Barbara Weil.
«Das war eine Tochter von Rachel Weil. In die hatte er sich auf der Überfahrt verliebt», so Publizist Roy Oppenheim. Meyer Guggenheim heiratet also: die Tochter der zweiten Frau seines Vaters. Die beiden legen damit den Grundstein für ihren persönlichen American Dream. Weil Geld aber erstmal knapp bleibt, will Meyer das machen, was er bereits aus der Schulzeit kennt: er hausiert. Wie Bettler hätten die Guggenheims in den USA angefangen, so Oppenheim.
Bald eröffnen Meyer und Barbara einen kleinen Laden. Sie verkaufen dort alles, was etwas Geld bringt. Erster Verkaufsschlager wird ein günstiges Kaffee-Ersatzgetränk. Dann kommt eine Herd-Politur hinzu, die Guggenheim damit bewirbt, dass an den Händen der Hausfrauen keine Spuren zurückbleiben. Auch die Familie wächst. Zehn Kinder bringt Barbara zur Welt, darunter 1861 Solomon.
Hänseleien wegen Schweizerdeutsch
Bis 1870 ist Meyer Guggenheim zum Gewürzgrosshändler aufgestiegen, 1873 steigt er in die Produktion von Laugen ein. Später kauft die Familie günstig eine bankrotte Eisenbahnlinie, die kurz darauf zu einem so zentralen Stück des US-Eisenbahnnetzes wird, dass die Guggenheims sie mit riesigem Gewinn wieder verkaufen können.
Die Amerikaner haben das für Jiddisch gehalten. Tatsächlich war es Schweizerdeutsch.
Den Gewinn investiert die Familie in eine Stickerei-Fabrik in St. Gallen und importiert fortan Ware aus der alten Heimat nach Amerika. Immer stärker werden auch die Söhne von Meyer und Barbara ins Geschäft eingebunden.
Roy Oppenheim sagt, die Sprache der Guggenheims habe in den USA für Belustigung gesorgt. Denn die Familie habe nicht sehr gut Englisch gesprochen, mit Akzent. «Die Amerikaner haben das für Jiddisch gehalten. Tatsächlich war es Schweizerdeutsch.» Dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg tun damit zusammenhängende Hänseleien keinen Abbruch.
Steinreich innert kürzester Zeit
Ende des 19. Jahrhunderts kauft ein Sohn von Meyer Guggenheim Anteile an einer Blei- und Silbermine in Mexiko. Aus 5000 US-Dollar werden sehr bald 15 Millionen US-Dollar. Ein für die damalige Zeit schwindelerregend hoher Betrag, der heute fast einer halben Milliarde entspräche.
Die Guggenheims kamen aus der Armut, aus dem Buuredörfli.
Ende des Jahrhunderts gehörten die Guggenheims laut Oppenheim zu den drei reichsten Familien der USA, neben den Rockefellers und den Vanderbilts. «Es ist rührend zu sehen, wie sich die vorgearbeitet haben», so der Experte. Die ganze Geschichte der Guggenheims sei eine Geschichte des Aufstiegs: «Die Guggenheims kamen aus der Armut, aus einem ‹Buuredörfli›.» Mit dem grossen Geld, so Oppenheim, sei auch das Interesse für die Kultur gekommen.
Der Erste, der sich mit Kunst auseinandersetzt, ist Solomon Guggenheim. Er sammelt Werke von Wassily Kandinsky, dem Wegbereiter der abstrakten Kunst. Andere grosse Namen kommen dazu, nicht zuletzt dank der späteren Hilfe von Solomons Nichte Peggy: Picasso, Cézanne, Dalí, Mondrian, Renoir und Van Gogh oder Pollock. Kaum ein grosser Name seiner Zeit fehlt in der Sammlung.
Angesicht der Entstehungszeit sei das «eine grosse Leistung», so Oppenheim. Denn im weitgehend von Nazi-Deutschland beherrschten alten Kontinent galt moderne Kunst als «entartet».
Jüdische Gemeinden im Surbtal werden kleiner
Innert einer Generation hat sich die Lengnauer Familie in den USA ganz nach oben gearbeitet. Aber die Guggenheims erinnern sich, wo sie hergekommen sind: 1903 stiften sie zu grossen Teilen das israelitische Altersasyl in Lengnau. Bis heute ist es – mittlerweile als gemischt-konfessionelles – Altersheim in Betrieb.
Geführt wird das Altersheim bis heute jüdisch. Es sei der einzige Ort in Lengnau, wo man heute noch koscher essen könne, so Oppenheim. Auch deshalb ist er im Altersheim immer wieder zu Gast, wenn er Besuchergruppen durch Lengnau führt. In den beiden Dörfern aber, die den Juden bis 1866 schweizweit als einziger Wohnort offenstanden, leben heute immer weniger Juden.
Das sei aber nicht weiter bedauerlich, so Roy Oppenheim. Die Juden hätten heute den Staat Israel. Aber das Verschwinden jüdischer Stimmen erschwert die Erinnerung an das früher ausgeprägtere Zusammenleben in den beiden Dörfern.
Eine Träne auf dem Aargauer Friedhof
Auch die Guggenheims haben heute nur noch eine lose Verbindung zu Lengnau. «Nicht alle sind stolz darauf, dass sie aus einem kleinen Bauernnest stammen», sagt Roy Oppenheim. Vor allem jener Teil der Familie, der hinter den Guggenheim-Museen steckt, verkehre heute in den obersten Schichten der USA.
Wenn doch einmal Nachfahren der Guggenheims ins Surbtal kommen, dann melden sich viele früher oder später bei Roy Oppenheim. So wie jener Nachfahre von Auswanderer Meyer Guggenheim, der für das weltweit tätige Finanzdienstleistungsunternehmen Guggenheim Partners verantwortlich zeichnete. Oppenheim führte den Gast bis auf den alten Jüdischen Friedhof, der genau zwischen Lengnau und Endingen liegt.
«Auf dem Friedhof habe ich ihn vor die beiden Grabsteine seiner Ur-ur-ur-ur-Grosseltern gestellt, die in Lengnau begraben sind. Als wir vor diesem Grab standen, habe ich gesehen, wie er eine Träne im Auge hatte.» Unglaublich berührt sei der Guggenheim-Nachfahre gewesen, sagt Oppenheim. «Der ist in eine andere Welt gekommen: Ein Bauerndorf im Kanton Aargau, das solche Leute hervorgebracht hat wie ihn.»