Rache ist überall, auch wenn man in unseren modernen Gesellschaften nicht gerne darüber spricht. Warum wir Rache tabuisieren und wieso Rache nicht unbedingt in einer Gewaltspirale mündet, erklärt Philosoph Fabian Bernhardt.
SRF: Rache scheint ein tabuisiertes Thema zu sein. Man spricht eher über sexuelle Erlebnisse oder Fusspilz als über Rache.
Fabian Bernhardt: Ja, vor allem, wenn es um die eigenen Rachegelüste geht. Aber solange sich die anderen rächen oder Figuren in einem Krimi, finden wir das gut.
Rache, das machen nur die Anderen?
Diese Sichtweise ist sehr verbreitet in Gesellschaften, die sich für aufgeklärt und zivilisiert halten. Dass Rache auch in unserer Welt und unserem Alltagsleben nach wie vor eine grosse Rolle spielt, bleibt meist ungesagt.
Rache kommt nicht aus dem Nichts.
Es scheint aber, als gäbe es aktuell eine Art Rückkehr der Rache. In aktuellen kriegerischen Zusammenhängen wird offen von «Vergeltungsaktionen» gesprochen.
Die Rache ist nie wirklich weg gewesen. Sie wurde lange unsichtbar gemacht, wenn sie in unsere Nähe rückte. Solange es zum Beispiel der Islamische Staat in Jordanien war, wurde das Wort auch mal genannt. Was sich verändert hat, ist die Sichtbarkeit.
Wenn man Ihr Buch liest, denkt man sogar, dass es ohne Rachegefühle vielleicht gar kein moralisches Empfinden gäbe.
Rache kommt nicht aus dem Nichts. Sie ist die Reaktion auf eine Kränkungs- oder Demütigungserfahrung.
Hinzu kommt das Bewusstsein, dass die andere Person gegen eine Norm verstossen hat. Es gibt geschriebene Normen wie zum Beispiel das Strafrecht, aber es gibt im Sozialen auch viele ungeschriebene Normen, die mit Höflichkeit oder Respekt zu tun haben. Wenn zum Beispiel ein freundlicher Gruss nicht erwidert wird, denken wir: «Was fällt dieser Person denn ein!» Das könnte Anlass sein für eine kleine Rache.
Es ist paradox: Der Ursprung der Rache ist der Drang nach Wiedergutmachung, aber indem man das Gleichgewicht wieder herstellen will, läuft man Gefahr, dass die Situation erst recht eskaliert.
Die Idee, dass Rache immer eskalieren muss, ist ein modernes Fantasma, das meist auf andere Kulturen und Gesellschaften projiziert wird. In traditionellen Gesellschaften ohne politische Zentralgewalt – zum Beispiel in Amazonien – gibt es keine Polizei oder Gerichte. Konflikte werden nach dem Vergeltungsprinzip reguliert.
Und es zeigt sich: Die Annahme, dass Rache notwendig in Gewaltspiralen einmündet, die sich dann über Generationen hinziehen, lässt sich empirisch nicht bestätigen.
Sie sagen, Rache sei ein blinder Fleck der Moderne. Aber wer abends den Fernseher einschaltet, sieht nichts als Filme gewordene Rachefantasien.
Absolut. Nehmen wir die Filme von Quentin Tarantino, wo es immer wieder um Rache geht, auch um historisches Unrecht, das ausgeglichen wird: In «Inglourious Basterds» rächt eine jüdische Brigade die Shoah, in «Django Unchained» geht es um die Sklaverei.
Wir leben in einer Welt, die global betrachtet alles andere als gerecht ist.
Haben wir die Rache in die Fiktion ausgelagert?
Hier wird ein zweifaches Bedürfnis angesprochen: In modernen Gesellschaften sind die Affekte nicht verschwunden, aber es gibt wenig gangbare Wege, persönlich Rache zu üben. Da bietet sich das Imaginäre an.
Zweitens gibt es ein sehr grosses Bedürfnis nach Gerechtigkeit, aber wir leben in einer Welt, die global betrachtet alles andere als gerecht eingerichtet ist. In Geschichten kann dann am Ende doch die Gerechtigkeit obsiegen.
Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger.
(Dieses Interview ist ein Auszug aus der «Sternstunde Philosophie». Die Fragen und Antworten wurden gekürzt.)