Sollen sie doch selber schauen, wie sie das stemmen, ihre grössenwahnsinnigen Söhne. Marie Knie-Heim denkt keine Sekunde daran, auch nur einen Franken der hart angesparten Million unter ihrer Matratze beizusteuern.
Nach über einem Jahrhundert Zirkus Knie in der offenen Arena wollen ihre vier Söhne 1919 ein Zelt kaufen, mit 3000 Plätzen. Das kann nicht gut kommen.
Heute wissen wir: Die verwitwete Zirkusdirektorin hat sich getäuscht.
Ein moderner Zeltzirkus
Angetan von der Zeltidee ist allerdings Margrit Lippuner. Sie hat sich in Maries Zweitältesten Friedrich Knie verliebt, einen Seilartisten mit grossen Plänen. Zusammen mit seinen Brüdern Rudolf, Charles und Eugen will er mit der Zeit gehen und als moderner Zeltzirkus Wind und Wetter trotzen. Vorstellungen auch wenn’s regnet, das rechnet sich. Und Margrit Lippuner kann auch rechnen.
Sie liebäugelt mit einer Hochzeit, aber für eine Familiengründung muss das Kniesche Unternehmen auf sicheren Füssen stehen und ein regelmässiges Einkommen garantieren. Dass Vorstellungen wegen schlechter Witterung abgesagt werden müssen, soll nicht mehr vorkommen.
Maries Söhne haben ihren eigenen Kopf
Die zukünftige Schwiegermutter Marie Knie ist aber der festen Überzeugung, dass ein Zirkus wie ein guter Haushalt geführt werden muss: Man darf nie mehr Geld ausgeben als einnehmen.
Damit ist sie immer gut gefahren, hat nach dem Tod ihres Mannes Ludwig fünf Söhne und zwei Pflegetöchter durchgebracht, die Arena geführt und den guten Ruf der Artistenfamilie gepflegt.
Ein Zelt, auf Schulden gebaut
Ein Jahr nach dem Ersten Weltkrieg muss Marie Knie aber zusehen, wie sich ihre Söhne ihren Prinzipien widersetzen. Bei der Blachenfabrik Geiser & Cie. in Hasle bei Burgdorf bestellen sie das Zweimastenzelt – auf Schulden.
1919 starten sie die Tournee noch als «Arena Knie», aber in Bern ist es soweit: Am 14. Juni laden Knies zur Premiere im neuen Chapiteau in den «Schweizer National-Circus der Gebrüder Knie» ein.
Vorausschauend lassen sie ihren neuen Namen deutsch und französisch ins Handelsregister eintragen. Damit erklären sie sich gleich selber zu einer nationalen Instanz.
Zittern vor dem Debüt
Noch vor Saisonbeginn hat Margrit Lippuner ihrem Friedrich das Jawort gegeben. In Rapperswil wurde am 25. März eine grossartige Doppelhochzeit gefeiert, denn auch der Heiratsantrag von Friedrichs Bruder Rudolf Knie stiess bei seiner Jugendliebe Sophie Griesser auf offene Ohren.
Jetzt steht den beiden frischvermählten Frauen an der Premiere in Bern eine Feuerprobe bevor. Wie alle eingeheirateten Knie-Gattinnen sind sie für den Billetverkauf zuständig.
Schon der Vorverkauf am Samstagmorgen läuft wie geschmiert, der Andrang an der Abendkasse übertrifft aber alle Erwartungen. Das Publikum fürchtet, keinen Platz mehr zu ergattern und rennt Sophie und Margrit die Bude, genau genommen das Kassahäuschen, ein.
Alle wollen zum Knie
Nach der Vorstellung das grosse Aufatmen. Das neue Zelt, das Programm mit «15 Attraktionsnummern» und die moderne Beleuchtung sind ein überragender Erfolg. Beim Einlass hat das Zirkusorchester Wagner gespielt, die Familie Knie zeigt ihr bestes Repertoire und nach der Pause preschen Affen als kleinste Jockeys der Welt auf Hunden durch die Manege.
An den nächsten Gastspielorten spricht es sich rum, dass man «den Knie» gesehen haben muss. Die Vorstellungen sind ausverkauft, die Presse begeistert und die Clowns ernten Lachsalven.
Heimlich muss sich auch Mutter Marie eingestehen, dass sich der Mut ihrer Söhne gelohnt hat. Ihren Stolz darüber, dass sie bereits nach vier Monaten ihre Schulden beim Zeltbauer Geiser begleichen können, versteckt sie aber. An einer Devise der Familie Knie hält sie eisern fest: Auch der grösste Erfolg darf einem nicht in den Kopf steigen.
Der Zirkus gedeiht und Margrit findet ihre Rolle
Es läuft weiter rund. Schon 1920 müssen die Affen nicht mehr auf Hunden reiten: Friedrich Knie führt zum ersten Mal Pferde vor und Therese Renz präsentiert ihren Elefanten Dicky. Dem Zelt angegliedert wird eine Menagerie mit exotischen Tieren, die sonst nur im Basler Zoo zu sehen sind.
Margrit hat sich schnell eingelebt. Wie alle eingeheirateten Frauen sorgt sie dafür, dass die Einnahmen stimmen, verhandelt mit den Handwerkern und knüpft gute Kontakte zu den Behörden. Denn schliesslich soll der Zirkus Knie auf der nächsten Tournee wieder einen guten Standplatz zugeteilt bekommen.
Die neue Generation in der Manege
Die beiden Söhne von Margrit und Friedrich stehen früh in der Manege, wie es sich bei den Knies gehört. Fredy, der Erstgeborene, reitet 1924, kaum vierjährig, zum ersten Mal unter dem Chapiteau und wird mit neun zum «jüngsten Schul- und Springreiter der Welt».
Der ein Jahr jüngere Rolf ist fasziniert von den Elefanten und Raubtieren, versucht sich aber zuerst als Akrobat. Cousine Eliane galoppiert schon länger als Tscherkessenreiterin über das Sägemehl. Für neuen Artistennachwuchs in der Dynastie ist also gesorgt.
Alle helfen mit
Margrits Mann Friedrich teilt sich mit den drei Brüdern das Direktorium. Sie sind ganz unterschiedliche Typen, aber man rauft sich zusammen und jeder hat seine Spezialität.
Das Zirkusunternehmen wächst und wächst, bald sind 25, kurz darauf 80 Wagen mit der Eisenbahn in der ganzen Schweiz unterwegs. 1927 reisen gut 90 Artisten und Artistinnen mit. Alle packen an, versorgen die Tiere und helfen beim Aufbau des Chapiteaus.
Den Knies und ihrem Zirkus scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Bis 1933 Rudolf stirbt und Charles und Eugen gegen den Willen von Friedrich das Familienunternehmen 1934 in eine Aktiengesellschaft umwandeln.
Zirkus in der Krise
Der Haussegen hängt schief. Beruhigend ist aber, dass das Riesenprojekt «Circus unter Wasser» im Folgejahr ein Publikumserfolg ist. Doch dann der Rückschlag. Charles – grössenwahnsinnig geworden, sagt der Rest der Familie – will mit der Pantomime «India» neue Massstäbe setzen. Doch das Programm lockt kaum Publikum an und reisst ein grosses Loch in die Kasse. 16 Jahre nach der Gründung des Zeltzirkus droht die Pleite.
Eine Stärke der Familie Knie ist aber, dass man in der Krise zusammenhält. Auch wenn es schwerfällt. Mit seinem Privatvermögen rettet Friedrich den Zirkus, aber ab jetzt heisst es wieder sparen. Die wirtschaftliche Situation in der Schweiz ist katastrophal, in Deutschland sind die Nationalsozialisten an der Macht.
Geistige Landesverteidigung in der Manege
Ruhe in das Zirkusunternehmen bringt die Besinnung auf klassische Programme unter dem Motto «Der Circus der grossen Qualität». Das Publikum dankt’s und die Kasse stimmt wieder.
1938 feiert man «125 Jahre Dynastie Knie und 20 Jahre Schweizer National-Circus». Als die Zeichen im darauffolgenden Jahr auf Krieg stehen, gibt man das «Schweizer Programm» zu Ehren der Landesausstellung 1939.
Dann bricht der Zweite Weltkrieg aus und in der Schweiz wird die allgemeine Mobilmachung ausgerufen. Die Zirkussaison ist am 1. September noch nicht zu Ende, das Artistenunternehmen ist bis Mitte November auf Tournee. Bald werden wichtige Lebensmittel rationiert und im Zirkus wird das Tierfutter knapp.
Die Vorstellungen gehen aber weiter und die Familie Knie präsentiert in einem Kraftakt während der ganzen Kriegsdauer ein Wanderprogramm – im verdunkelten Zelt und mit Soldatenvorstellungen. Privat müssen Knies mit dem Tod von Charles und Friedrich zurechtkommen.
Ab 1941 liegt das Geschick des Unternehmens in Margrits Händen, unterstützt von Schwager Eugen, dessen Tochter Eliane und ihren beiden Söhnen Fredy und Rolf.
Wieder führt eine Witwe den Zirkus
Margrit findet sich unverhofft in derselben Situation wieder wie ihre Schwiegermutter Marie. Jetzt liegt es an ihr als Direktorin im Hintergrund, die Geschicke des Zirkus zu leiten und einen kühlen Kopf zu bewahren.
Im Wagen 29, ihrem Zuhause während der Spielsaison, bewirtet sie nach Vorstellungsschluss Politiker und Berühmtheiten jeglicher Couleur. Dort pflegt sie ihr Netzwerk, das helfen soll, den Zirkus über die Runden zu bringen.
Nach Kriegsende normalisieren sich der Zirkusalltag und auch das Privatleben wieder. Das Publikum strömt in Scharen. Die Söhne und Töchter heiraten, die ersten Enkel treten in die Fussstapfen ihrer Eltern und ins Scheinwerferlicht. Der Fortbestand der Dynastie scheint einmal mehr gesichert.
Fredy und Rolf etablieren sich
Fredy, Rolf und Eliane teilen sich das Direktorium nach dem Tod von Eugen zu dritt. Zu dritt treten sie auch weiterhin unter der Zeltkuppel auf. Bis es Ende Saison 1959 zum Zerwürfnis kommt. Eliane und ihr Mann Jacky Lupescu verlassen in der Folge den Zirkus. In der Dynastie hat es nicht Platz für alle.
Jetzt sind Margrits Söhne Fredy und Rolf offiziell technischer und künstlerischer Direktor. Abends zeigen sie ihre international anerkannten Elefanten- und Pferdenummern. Ihre Ehefrauen helfen der Schwiegermutter Margrit an der Zirkuskasse.
Das Unternehmen floriert und schon brilliert wieder die nächste Knie-Generation hoch zu Pferd, mit Raubtieren, als Clown, mit Dickhäutern und Exoten aller Art.
Manege statt Kasse
Einen bedeutenden Unterschied im sonst traditionsbewussten Zirkus Knie gibt es in den 1970er-Jahren: Zwar heiraten die Söhne von Fredy, die beiden Junioren Fredy und Rolf, wie ihre Vorväter keine Artistinnen, aber die Gattinnen zieht es nicht ins Kassahäuschen, sondern in die Manege.
Mary-José und Erica Knie erarbeiten sich mit hartem Training Auftritte und das Lob ihres Schwiegervaters Fredy senior. Louis’ Frau Germaine Theron stösst als Rad-Akrobatin zum Knie und gehört bald schon zum festen Ensemble.
Eine weitere Generation in der Manege
Noch einmal verlassen zwei Nachkommen das Unternehmen: Ab 1984 widmet sich Rolf jun. eigenen Projekten und 1993 scheidet Louis Knie im Streit aus. Beide sind dem Zirkusleben aber nach wie vor verbunden.
Die Cousins Fredy jun. und Franco Knie teilten sich bis vor kurzem die Leitung des Familienbetriebs. Heute besteht das Direktionsteam aus der siebten Generation: Géraldine Knie, Tochter von Fredy jun., ist artistische Direktorin, ihre Cousine Doris Knie ist administrative Direktorin und Franco Knie jun. übernimmt die technische Direktion. Auch ihre Kinder stehen bereits in der Manege und es sieht ganz so aus, als würde die Familie Knie der Geschichte ihrer Dynastie noch weitere Kapitel hinzufügen.