Unsere Erinnerungskultur an die grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts steht vor einer Veränderung. Die letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts werden bald sterben. Damit verschwinden diese Ereignisse aus der persönlichen Erfahrung der Menschen.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Erinnerung an den Holocaust? Ein Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann über letzte Prozesse, Gefahren und neue Chancen.
SRF: Zurzeit findet am Landgericht in Hamburg der Prozess gegen Bruno D. statt, einen ehemaligen SS-Wachmann. Verfolgen Sie diesen Prozess?
Aleida Assmann: Ja. Der Prozess gilt als wahrscheinlich letzter NS-Prozess. Damit ist wieder eine neue Schwelle in der Erinnerungsgeschichte an den Holocaust erreicht. Wir leben in einer Zeit, in der bald niemand mehr aus persönlicher Erfahrung über den Holocaust berichten kann. Weder Opfer noch Täter.
Was bedeutet es für die Erinnerung an die grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts, wenn der letzte Täter gestorben ist?
Zunächst ändert sich nicht schrecklich viel. Wir haben viele Fixpunkte, an denen wir diese Vergangenheit, die gerade entschwindet, festmachen können. Wir haben die vielen Zeugnisse der Überlebenden, das sind überquellende Archive. Und wir haben authentische Orte, ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager, die heute Gedenkstätten und Bildungsorte sind.
Während die Zeitzeugen immer weniger werden, nimmt die Bedeutung dieser historischen Orte zu. Orte, die viel mehr sind als nur ein Mahnmal. Wir müssen sie als «Schauplätze» bezeichnen. Schauplätze, deren Geschichte wir rekonstruieren und weitervermitteln müssen. Es sind Orte, die einem das Gefühl geben: Hier ist es gewesen.
Je älter die Überlebenden des Holocausts wurden, desto stärker wurde ihr Bedürfnis, ihre Erinnerungen und Traumata festzuhalten und zu teilen.
Die Erinnerungen der Opfer sind in Denkmälern, Museen, Archiven, aber auch in Büchern und Filmen gespeichert und damit fest im kulturellen Gedächtnis verankert.
Was wir aber nicht vergessen dürfen: Die Öffentlichkeit hat lange kein Ohr für die Überlebenden gehabt. Ihre Stimmen wurden unterdrückt. Erst mit dem Eichmann-Prozess 1961 wurde dieser Bann des Schweigens gebrochen. Der Prozess wurde im Fernsehen übertragen und hat die ganze Welt erreicht. Es war der Anfang eines Sprechens und Gehörtwerdens der Opfer.
Aber die Täter schwiegen weiter.
Bei den Tätern besteht weiterhin eine Lücke des Schweigens. Ihre Perspektive ist bis heute kaum vorhanden. Ich bezeichne dieses Phänomen als Gedächtnis-Asymmetrie. Und die gilt es abzubauen.
Warum?
Wir brauchen die Erinnerung und Geschichte der Täter, weil es um Aufklärung und Wissen geht. Es stimmt etwas in einer Gesellschaft nicht, wenn die Erinnerung an die grösste Katastrophe des 20. Jahrhundert nur von Seite der Opfer da ist.
Es besteht die Gefahr, dass wir dann in einer Gesellschaft leben, in der sich die Täter einfach verabschiedet haben, stillschweigend. Man vergisst, dass es sie gab. Das darf nicht passieren.
Bald wird der letzte Täter, die letzte Täterin tot sein. Wird es dann einfacher oder erst recht unmöglich, ihre Perspektiven wiederzugewinnen?
Die Chancen werden eher besser. Die Tätergeneration hat wie gesagt nicht viel dazu beigetragen, diese Asymmetrie abzubauen. Sie hat geschwiegen, geleugnet, gerechtfertigt. Das sind die drei typischen Reaktionen auf der Täterseite. Bis heute.
Auch Bruno D., der zurzeit in Hamburg vor Gericht ist, zeigt diese Reaktionen. Von Reue zeigt er keine Spur, er sieht sich vielmehr selbst als Opfer. Das Leid, das er empfindet, ist Selbstmitleid – das Leid der Anderen hat er nicht im Blick.
Wieso glauben Sie, dass die Chancen nun besser werden, die Perspektive der Täter zu erschliessen?
Man sieht zunehmend, dass private Archive aufgegriffen und geöffnet werden: Hinterlassenschaften in Kellern und Dachböden.
Ein gutes Beispiel ist das Buch von Géraldine Schwarz, einer deutsch-französischen Journalistin und Autorin. Ihr Buch «Die Gedächtnislosen» beruht auf einem Aktenordner ihres deutschen Grossvaters, den sie im Keller gefunden hat.
In ihrem Buch erzählt Schwarz die Geschichte ihres Grossvaters, einem Mitglied der NSDAP, anhand von Urkunden aus dem Familienarchiv. Das ist eine Alltagsgeschichte, die für hunderttausend andere steht.
Es ist eine wichtige Form der Wiedergewinnung von Geschichtsbewusstsein, es ist wichtig für die Erinnerungskultur.
Sie haben sich ein Berufsleben lang nicht nur damit auseinandergesetzt, wie eine Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit umgeht, sondern auch, welche Rolle Erinnerungen für die Identität des Einzelnen spielen. Sie schreiben, Erinnerung sei der Stoff, aus dem das Leben sei. Was genau meinen Sie damit?
Ich meine damit den Stoff einer Identität. Ein Bewusstsein dafür: Das bin ich. Es geht um Fragen wie: Was gehört zu mir? Und was hat mich zu dem gemacht, was ich geworden bin?
Dafür muss man Geschichten erzählen – und für Geschichten braucht man Erinnerungen. Aber nicht nur die eigenen Erinnerungen, auch die Erinnerungen von Anderen. Das ist entscheidend. Erinnern kann man sich nur im Verbund.
Wieso braucht es für persönliche Erinnerungen die Anderen?
Erinnerungen sind lückenhaft, es fehlen immer viele Stücke. Erinnerungen sind wie Puzzles, wo andere mit ihren Puzzlestücken weiterhelfen können.
Nehmen wir meine Familie: Wir sind zu siebt, mein Mann und ich und fünf erwachsene Kinder. Jeder, jede von uns hat ein anderes Teil des Puzzles in der Hand. Würde nun jemand ganz allein das Puzzle machen, wäre es ein schütteres Gebilde.
Erinnerungen brauchen die Bestätigung, die Korrektur und Ergänzung von anderen Erinnerungen. Die Erinnerung ist zentral für unsere Identität. Sie funktioniert aber nur zu zweit, zu dritt, zu viert. Erinnern ist ein eminent soziales Phänomen.
Das Gespräch führte Anna Jungen.