Zeitumstellung. Es warten die langen, warmen Sommerabende. Zunächst aber müssen wir den Mini-Jetlag überwinden, den die Zeitumstellung mit sich bringt. Unsere inneren Uhren müssen sich neu einstellen, was zu Müdigkeit und Konzentrationsmangel führen kann. In der Regel reichen aber wenige Tage, und wir schlafen wieder wie zuvor.
Zum Glück, denn: Schlaf ist die beste Medizin. Er hilft gegen Demenz, Depressionen und Diabetes. Er stärkt unser Immunsystem, fördert Gedächtnis und Kreativität und soll sogar das Krebsrisiko senken.
Ein wahres Wundermittel also, der Schlaf. Das zumindest behaupten Forscher wie Matthew Walker, Neurowissenschaftler, Psychologe und Direktor der Schlaflabors der University of California in Berkeley. In seinem Werk «Das grosse Buch vom Schlaf» schreibt er: «Schlafen ist das allerbeste Mittel für die Gesundheit unseres Gehirns und unseres Körpers – die stärkste Waffe von Mutter Natur.»
Neben einer ausgewogenen Ernährung und ausreichend Bewegung sei der Schlaf die überragende Grösse, wenn es um unsere Gesundheit geht: «Nur eine Nacht Schlafmangel hat weitaus dramatischere Folgen für die körperliche und geistige Gesundheit als zu wenig Nahrung oder Bewegung», meint Walker.
Schlaflos durch die Nacht
Umso besorgniserregender ist die Tatsache, dass immer mehr Menschen über Schlafprobleme klagen. Nur knapp die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer schläft gut. Verbreitete Gründe für den zunehmend schlechten Schlaf sind Stress, Sorgen, Reizüberflutung, Handykonsum und das Gefühl ständiger Erreichbarkeit. Aber auch fehlende Entspannung, Bewegungsmangel, Lichtmangel und schlechte Ernährung.
Etwa zehn Prozent der Bevölkerung leiden unter einer «Insomnie», einer Schlafstörung, bei der sie regelmässig abends nicht einschlafen können oder nachts aufwachen und wachliegen. Frauen sind davon häufiger betroffen als Männer.
Die allermeisten von uns kennen vereinzelte unruhige Nächte. Von einer Schlafstörung spreche man aber erst, «wenn die Symptome mindestens in drei Nächten pro Woche auftauchen, über mindestens einen Monat», meint Christine Blume. Sie ist Schlafforscherin am Zentrum für Chronobiologie der Universität Basel und Schlaftherapeutin an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel.
So geht erholsamer Schlaf
Blume ist auch Expertin im Podcast «Über Schlafen», produziert von Deutschlandfunk Nova, wo sie über alle möglichen Fragen rund um den Schlaf Auskunft gibt: von Träumen über's Schlafwandeln bis zum Zusammenhang von Schlaf und Immunsystem.
Wird die Schlafforscherin gefragt, was guten Schlaf fördert, dann nennt sie vieles, was wir bereits kennen: Dunkelheit, Ruhe, ein kühles Schlafzimmer (16 bis 18 Grad), körperliche Entspannung, Rituale vor dem Einschlafen, keine schweren Mahlzeiten kurz vor dem Zubettgehen und ein regelmässiger Schlaf-Wach-Rhythmus.
Im Bett sollte man nichts anderes machen als schlafen, meint Blume. Ausser vielleicht miteinander schlafen. Also auch kein Social Media, kein Netflix und schon gar keine Arbeit.
Wenn man dennoch mal wachliegen sollte, dann empfiehlt Blume: Nach 20 Minuten das Bett wieder verlassen, aufstehen und sich etwas Gutes tun, etwas lesen zum Beispiel. Und es nach einer Weile noch einmal versuchen. Diese Empfehlungen richten sich allerdings nur an Menschen mit Schlafproblemen. Alle anderen müssten sich keine Sorgen machen, so Blume.
Für guten Schlaf braucht es also keine Schlaf-Apps, die einen nachts überwachen. Auch keine schweren «Gravity-Decken», keine Melatonin-Gummibärchen, kein Lavendel-Duft und auch kein Salat-Wasser (eine Art Tee, mit Salatblättern aufgebrüht) und kein «Sleepy Girl Mocktail», wie Tiktok-Trends unlängst nahelegten.
Die vielleicht überraschendste und zugleich folgenreichste Einsicht der Schlafforschung lautet: «Guter Schlaf beginnt am Tag.» Mit ausreichend Bewegung draussen an der frischen Luft, mit ausgewogener Ernährung und Erholung.
Denn wir tragen die Sorgen und Spannungen des Tages hinein in die Nacht. Sie ist also nur die Fortsetzung des Tages mit anderen Mitteln, könnte man sagen. Das kommt auch in unseren Träumen zur Geltung.
Nächtliche Therapie: der Traum
Träume galten über Jahrtausende als Tor in eine andere Welt oder in die Zukunft. Der Berufsstand des Traumdeuters gehörte zum festen Inventar vormoderner Gesellschaften. Im 20. Jahrhundert hat die Psychoanalyse, massgeblich beeinflusst durch Sigmund Freud, die Träume ganz neu gedeutet: nämlich als fantastische Erfüllung unterbewusster Wünsche.
Träume verraten nach Freud zwar nichts über die Welt, dafür viel über uns. Die heutige Forschung aber bestreitet das. Träume seien zum grossen Teil blosse Begleiterscheinungen von nächtlichen Gehirnvorgängen. Dennoch sind sie wichtig, meint der Schlafforscher Matthew Walker.
Träume während des REM-Schlafs, also während der Schlafphase, in denen sich unsere Augen schnell hin und her bewegen («rapid eye movement»), seien eine Art nächtliche Therapie: «Wenn wir im REM-Schlaf träumen, werden tagsüber aufgetretene schwierige oder gar traumatische emotionale Erlebnisse weniger schmerzlich, so dass man morgens beim Aufwachen emotional gefestigt ist», schreibt Walker.
Durch Träume verarbeiten wir emotional belastende Erfahrungen des Alltags und können uns von ihnen distanzieren. Wenn wir in Tiefschlafphasen Träume haben, an die wir uns leider kaum erinnern, dann überträgt unser Gehirn dabei Informationen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis.
Wir speichern also wichtige Informationen ab und schaffen Platz für Neues. Dazu reicht manchmal bereits ein Mittagsschlaf, wie Matthew Walker und sein Team herausgefunden haben. Batterien aufladen und die Speicherkapazität wiederherstellen, ein wahrer «Powernap» also.
Erholung: eine Zeitverschwendung?
Die Rede vom «Powernap» ist sehr bezeichnend für unser modernes Verhältnis zum Schlaf. Seit der Aufklärung sehen wir im Schlaf vor allem ein Hindernis, das uns von produktiver Arbeit abhält. Eine lästige, aber notwendige Pause im allgegenwärtigen Fortschrittsprozess.
Oder wie es in einem Gesundheitsratgeber des 18. Jahrhunderts heisst: «Lange Schlafen macht dumm, träge und ungesund.» Dem stimmten Aufklärungsphilosophen von John Locke bis Jean-Jacques Rousseau zu.
Die Aufklärung sei darum «im Kern eine Aufforderung zu Wachheit», schreibt die Kulturwissenschaftlerin Karoline Walter in ihrem aufschlussreichen Buch «Guten Abend, gute Nacht. Eine Kulturgeschichte des Schlafs». Zugleich sei die Aufklärung eine «Säkularisierung und Erneuerung des christlichen Auferstehungsgedankens».
Als Gegenströmung gegen die Aufklärung stimmte die Romantik ein grosses Loblied an auf die Nacht, die Dunkelheit, das Unfassbare und den Kontrollverlust. Und irgendwie auch auf den Tod. Doch diese ängstigende und todesverwandte Nacht wurde verdrängt, nicht nur von der Aufklärung, sondern auch vom technologischen Fortschritt.
Die Verteuflung des Schlafs
1792 wurde die Gaslampe erfunden. Davor gab es meist nur dunkles Kerzenlicht, in der Regel von flackernden Talg-Kerzen. «Bis ins späte 18. Jahrhundert war künstliches Licht in grossem Ausmass ein Privileg von Adel und Klerus», schreibt Karoline Walter. 1880 wendete sich das Blatt dann definitiv: Thomas Edison erfand die Glühbirne und machte die Nacht zum Tag. Das bedeutete eine Revolution des Schlafverhaltens.
Edison selbst sah im Schlaf bloss «einen Verlust von Zeit, Vitalität und Chancen». Er selbst habe darum nie länger als vier bis fünf Stunden geschlafen. Noch heute stehen wir in dieser Tradition, wenn wir Menschen, die unproduktiv sind, als «Penner» bezeichnen.
Diese Verteufelung des Schlafs fand ihren Höhepunkt in der Kriegsführung: «Wohl nirgendwo ist erfolgreiches Schlafmanagement bedeutender als im Kriegseinsatz», schreibt Karoline Walter. So habe Hitlers Armee auch dank der aufputschenden Droge «Crystal Meth», die unter dem Namen «Pervitin» verabreicht wurde, ihre Schlachten gewonnen. Wer schläft, verliert.
Die Vermessung des Schlafs
Auch in unseren alltäglichen Büro-Schlachten gegen die Konkurrenz ist Wachheit von Vorteil, darum versuchen wir heutzutage, unsere «Schlafeffizienz» zu optimieren, uns in kurzer Zeit maximal zu erholen. Das nennt sich dann «Quality Sleep». Ein Schlaf, der dank Apps und Pulsmessgeräten zugleich ein «Quantified Sleep» ist. Wenn schon Schlaf, dann bitte möglichst effizient.
Schade eigentlich, diese Vermessung und Verzweckung des Schlafs, dieses unverfügbaren Drittels unseres Lebens. Wie schön kann es doch sein, sich für eine Siesta auf das Sofa zu legen und vor sich hinzudämmern. Langsam die Kontrolle abzugeben. Ohne Wecker. Einfach so. Weil es sich gut anfühlt.
Aber das würde ja bedeuten, dass wir unser Leben umstellen müssten. Und unsere Arbeit. Und überhaupt. Aber vielleicht ist genau das der Punkt. Vielleicht müssen wir lernen, anders zu leben, um anders und besser schlafen zu können.