Lebt jemand, der in zwei Welten aufgewachsen ist, stets zwischen ihnen? Ein Gefühl der Zerrissenheit kennt Hanan Osman kaum. Die gläubige Muslimin studiert internationale Beziehungen, ist Model mit Kopftuch und Influencerin für «modest fashion», also modische Kleidung, die den Sittsamkeitsregeln des Islams entspricht.
Zu Hause musste sich Hanan selten erklären, in der Öffentlichkeit hingegen schon. Etwa, als sie sich Mitte 20 von einem Tag auf den anderen entschied, ein Kopftuch zu tragen.
Damit wurde ihre Religiosität auf einmal sichtbar. Dass es Hanan Osman dabei allein um ihre Beziehung zu Gott ging, verstanden viele in ihrem Umfeld zunächst nicht. Hanan musste erstmal klarstellen, dass sie nicht unterdrückt und zum Kopftuchtragen gezwungen wurde – was sie ziemlich nervt. «Ich finde es schlimm, dass man mir nicht zutraut, mich selbst entschieden zu haben», sagt sie.
Hanan Osmans Eltern flohen 1991 aus Somalia in die Schweiz. Kurz zuvor wurde der somalische Diktator Siad Barre gestürzt, seither gilt das Land als «failed state», ein Staat ohne funktionierende Zentralregierung, die dschihadistische Terrorgruppe Al-Shabaab beherrscht weite Teile des Landes.
Die Kinder wurden religiös erzogen, jedoch ohne Zwang, erzählt Hanan. Sie gingen einige Jahre regelmässig in die Moschee. Die Kinder sollten Arabisch lernen, damit sie den Koran selber lesen können.
Die Sache mit der Religion
Religiös ist auch Mentari Baumann. Ihr Verhältnis zur Religion war jedoch nicht immer einfach. Mentari war noch ein Teenager, als sie realisierte, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlte. «Homosexualität kannte ich damals nur aus Fernsehserien», erinnert sie sich.
Vorbilder im echten Leben hatte sie keine. Also informierte sie sich im Internet. Schnell fand sie heraus, dass das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zur Homosexualität konfliktbeladen ist. Sie las von konservativen Katholikinnen und Katholiken, die Homosexualität verurteilten. Und beschloss: «Wenn die mich nicht wollen, dann will ich sie auch nicht.»
Die Familie als Fels in der Brandung
Diese Distanzierung fiel ihr nicht leicht. «Ich habe ein Stück Heimat verloren», sagt sie. Schlussendlich hat die junge Katholikin in christlichen und katholischen Communities, die queere Menschen willkommen heissen, eine neue Heimat gefunden.
Sie erzählt offen von ihrer Vergangenheit. Mehr als zehn Jahre sei sie nicht in ihrer zweiten Heimat, Indonesien, gewesen. Grund: Ihre indonesischen Verwandten wussten nichts von ihrer Homosexualität.
Natürlich gibt es auch in Indonesien queere Menschen, aber sie sind weniger sichtbar
«Die Rechte, die wir hierzulande haben, die ‹Ehe für alle› und den Diskriminierungsschutz, haben sie dort nicht.» Es gebe Regionen, wo gleichgeschlechtliche Beziehungen verboten sind. In Bali und Flores, wo ihre Familie herkomme, ist das immerhin nicht der Fall. «Natürlich gibt es auch in Indonesien queere Menschen, aber sie sind weniger sichtbar», so Baumann.
Anfangs haben ihre Eltern nicht recht gewusst, wie sie mit der sexuellen Identität ihrer Tochter umgehen sollten. «Ich habe es ihnen gesagt, als ich selbst noch nicht recht sicher war. Es war also eine gemeinsame Überforderung», erzählt Mentari Baumann. Am Ende habe ihre Familie sie in der Zeit des Coming-outs unterstützt, erinnert sich Baumann.
In den letzten Jahren hat Mentari Baumann damit begonnen, sich die indonesischen Rezepte ihrer Grossmutter anzueignen. Ihr ist wichtig, ihre indonesische Seite nicht zu verlieren. Die Sprache beherrscht sie auch – als Kind ging sie in der indonesischen Botschaft in die Sprachschule. Sie feierte mit den anderen Kindern der indonesischen Diaspora die muslimischen und Hindu-Feste.
Man kann alles erreichen, wenn man will
Die Verbindung zu den Eltern und ihrer Kultur ist für viele wichtig – auch für Hanan Osman: «Meine Eltern mussten in der Schweiz von null auf Deutsch lernen. Davor habe ich den grössten Respekt.» Ihre Mutter sei heute Dolmetscherin. «Meine Eltern haben uns gelehrt, immer das Beste zu geben. Und: Dass man alles erreichen kann, wenn man es will.»
Man muss nicht seine Werte verlieren, nur um dazuzugehören.
Hanan Osman lebt nach diesem Motto und legt einen erstaunlichen Bildungsweg hin: Sie hat nach der Ausbildung zur medizinischen Praxisassistentin die Erwachsenenmatur gemacht und studiert heute internationale Beziehungen in St. Gallen.
Vorurteile, Werte, Zugehörigkeit
Diskussionen über Freiheiten, Ausgang, Alkohol oder Rauchen, wie sie viele junge Menschen mit Migrationshintergrund erleben, hatte Hanan Osman mit ihren Eltern kaum. «Ich durfte alles ausprobieren, unsere Eltern haben uns einfach aufgeklärt, was im Islam erlaubt ist und was nicht.» Rauchen, Alkohol trinken, Sex vor der Ehe sei für sie nie infrage gekommen. «Man muss nicht seine Werte verlieren, nur um dazuzugehören.» Ausgeschlossen habe sie sich dabei nicht gefühlt.
Als Frau, als Muslimin mit Kopftuch und als Person of Color ist sie mit vielen Vorurteilen konfrontiert. «Ich werde oft auf Hochdeutsch angesprochen – und manche wechseln nicht einmal dann auf Schweizerdeutsch, wenn ich auf Dialekt antworte», sagt sie. Schon früh fiel die Familie auf, wenn sie im ländlichen Kanton St. Gallen unterwegs war. «Wir nahmen das selbst gar nicht so wahr», erzählt Hanan Osman.
Zwei Welten? Eine Bereicherung!
Als Verwandte aus den USA zu Besuch waren, merkten Hanan und ihre Familie, dass sie im Bus regelmässig angestarrt wurden. Übel nimmt sie das den Leuten nicht. «Sie kannten es nicht anders.» Nachsichtig sein mit jenen, die es nicht besser wissen – und die ignorieren, die unbelehrbar sind. Das ist Hanan Osmans Rezept im Umgang mit Alltagsrassismus.
Trotz der Vorurteile, denen sie im Alltag begegnet, findet Hanan Osman die zwei Welten, in denen sie sich bewegt, eine Bereicherung. Und: sie will ihre Erfahrungen beruflich nutzen. Sie denkt darüber nach, sich nach dem Studium in der Diplomatie zu engagieren.
In zwei Welten zu leben sei zwar herausfordernd, aber ein Gewinn, findet auch Mentari Baumann. «Es gab Tage, da half ich morgens am Schützenfest und schlüpfte dann in eine Tracht für ein indonesisches Fest am Nachmittag», erinnert sie sich. «Das hat mich gezwungen, mich schon früh mit mir selbst zu beschäftigen, um herauszufinden, wer ich bin und was ich im Leben will.»