Zürich, Kreis 4. Ein Frühlingstag. Der Himmel trägt Kantonsblau. Sonne. Bise. Ich sitze in einem Café. Hier werde Englisch gesprochen, ausnahmslos, hörte ich im Vorfeld von jemandem, der scheiterte, als er «e Schale» bestellte. Erst mit «Flat White» kam er zu seinem Getränk.
Ich versuchs. «E Schale bitte.» Der Barista – wie das jetzt heisst – sagt: «Ich bringe sie an den Tisch.» Seine «r» sind derart gewirbelt, das klingt eher nach Valencia als nach Brighton.
Hier wird also das Schweizerdeutsche bedroht? Nach Bedrohung sieht der Mann für mich nicht aus. Mit meiner Bestellung lief’s doch auch wunderbar.
Jetzt hocke ich draussen an einem Tisch und lese im Tagesanzeiger unter dem Titel «English first», dass in Zürich mittlerweile jede achte Person englischsprachig ist. Die NZZ schreibt sogar: «Englisch wird zur zweiten Landessprache». Besonders in Zürich sei das Schweizerdeutsche bedroht.
Wobei es das eine Schweizerdeutsch gar nicht gibt. SRF-Mundart-Experte André Perler bestätigt mir: «Es gibt Schweizerdeutsch als Sammlung alemannischer Dialekte, die in der Deutschschweiz gesprochen werden.»
Das Bundesamt für Statistik hat dazu neue Zahlen herausgegeben: In der Zuger Gemeinde Walchwil sprechen 27 Prozent der Bevölkerung Englisch. Die Zahl der Englischsprechenden hat sich in den vergangenen 20 Jahren versiebenfacht. Verdrängt Englisch tatsächlich das Schweizerdeutsche?
Der Barista bringt meine Schale. Mit ihm kommen drei Herren – Schweizerdeutsch sprechend – heraus und wechseln dann ins Englische, als ein Vierter dazukommt. «Multilingualität» heisst der Wechsel von einer Sprache zur anderen.
Am Nebentisch ist aber etwas viel Spannenderes zu hören. Zwei Anfangsvierziger unterhalten sich: Unmöglich, wegzuhören. Er: «Du, mir händ e Kampagne sit letzts Johr mit e super Süjet, nachhaltig, was mir da mached, die Dynamik. Und nächschte Wuche triff i wider d Bernadette zum Jasse.» Sie: «Chunnt de Ostschwizer au, dä mega cool Siech, wie heisst er … Romano?»
Dialoge wie dieser mit dem «super Süjet» und mit «dä mega coole Siech» zeigen, was gerade sprachlich passiert. Einen Fachbegriff gibt’s dafür nicht. Am ehesten «Sprachvermischung».
Genau das ist am Nebentisch angesagt. Sorry fürs Wortspiel. Und «Äxgüsi» oder «Excusez» fürs «Sorry».
Das sprachliche Reinheitsgebot
Die Bedrohung des Schweizerdeutschen durch das Englische basiert auf der Annahme, es gebe eine reine Sprache, in die Fremdes Einzug hält. Dazu bekam André Perler vor Jahren eine Hörerzuschrift: Kinder sollen doch statt der hässlichen deutschen Wendung «Fuessball spile» lieber zum schönen «tschuute» zurückfinden.
Perler musste den Herrn in Kenntnis setzen, dass «tschuute» vom englischen «to shoot» kommt und somit nicht «urschweizerisch» ist. Wo wir schon beim «tschuute» sind: Wie unrein, dafür lebendig das Schweizerdeutsche ist, finden wir spätestens bei Pedro Lenz «Der Goalie bin ig», wo «der Goalie» in der Beiz «Maison» die Regula trifft.
Daniel Perrin, Sprachwissenschaftler an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), sagt mir dazu, dass bei Sprachveränderungen immer zwei Pole zu beobachten seien: «Lokalisierung und Globalisierung». Bei der «Goalie bin ig» trifft es das genau: der «Goalie» in Langenthal.
Die hundertprozentige Reinheit habe, in Bezug auf den Wortschatz, sagen Perrin und Perler übereinstimmend, sowieso nie bestanden, wie man am «vis-à-vis» und dem «Bébé» im Berndeutschen sehen könne. Das sei deswegen auch nicht untergegangen, stellt Perrin fest.
Worte wie «Bébé» heissen Lehnwörter, und die habe es schon immer gegeben, und man sei gut damit gefahren, sagt Perler: «Im Deutschen haben Sprachbewahrer versucht, Fremdwörter zu ersetzen.» Das kam nicht immer gut an. «Kotelett ist geblieben, die ‹Rippenschnitte› hat sich nicht durchgesetzt.»
Sprache auf der Höhe der Zeit
Definitiv Schluss mit der sprachlichen Unverfälschtheit war spätestens vor 150 Jahren, sagt Perler: «Mit dem Einsetzen der Mobilität hat die Mundart begonnen, sich schneller zu verändern.» Fremdsprachen seien das eine. Heiratet ein Walliser eine Baslerin und sie ziehen in den Thurgau, ist es mit der sprachlichen Reinheit auch bald so eine Sache.
Der Zahn der Zeit und die Lebensumstände verändern Sprache. Das ist gut so. Denn stellen Sie sich vor, Sie würden heute Ihre pubertierende Tochter oder Enkelin mit dem Schweizerdeutsch in die Schule schicken, das Heinrich Gretler in der Verfilmung von Gotthelfs «Käserei in der Vehfreude» redet. Bald würde sie «gmobbet». «Gretler-Sprache» auf dem Pausenplatz oder mit Freundinnen beim K-Pop-Konzert?
Alles nur Jugendsprache?
Daniel Perrin und André Perler sind sich einig: «Sprache muss die Lebenswirklichkeit abbilden und sich darum stetig verändern.» Wenn nicht, passiere das, was Perrin an seiner Hochschule beobachtet: «Forschende und Lehrende, etwa aus England, die hier 20, 30 Jahre arbeiten und dann zurückkehren, merken dort, dass sie ihre Erstsprache inzwischen unzeitgemäss reden.»
Da ist man im Schweizerdeutschen erfolgreich zeitgemässer. «Kompiüterle» ist so ein Wort. Da hat sich die Mundart ein Lehnwort systematisch einverleibt, in Konjugation und Sprechweise: kein geknödeltes «r» wie bei «Computer» hinten in der Gurgel, nein.
Jahrelang musste die Sprache web- und englischaffiner Jugendlicher als Gefährdung herhalten, wobei deren Eltern «es Kafi» (arabisch) trinken, ins Büro (französisch) biken (englisch) respektive (lateinisch) fräsen (umgangssprachlich deutsch), Meetings und einen CEO haben. So viel zum Thema Reinheit.
Nur ein Zürich-Phänomen?
André Perler sagt, was gerade vorgehe, sei trotzdem anders zu verorten als das bisherige. Ihm sei, sensibilisiert durch unser Vorgespräch, auf einer Party aufgefallen, dass Bekannte nicht nur Anglizismen nutzen, sondern dass ganze Halbsätze auf Englisch kommen: «That’s weird» oder «Guess why» seien nur der Anfang gewesen.
Anfangs habe er gedacht, das omnipräsente Englisch sie nur ein Zürich-Phänomen. Dann sei er aber in der Zwischenzeit beim Saunieren in Bern von einer Mitarbeiterin mit der grössten Selbstverständlichkeit auf Englisch angeredet worden. «Die hat noch nicht mal gefragt, ob das in Ordnung ist.»
Genau da ist der Knackpunkt: Dass man unhinterfragt auf Englisch angeredet wird. Das spricht sich herum. Es gebe Gastronomiebetriebe, da würden Mitarbeitende schon Schilder tragen mit «English please». Ich mache mich auf die Suche.
Im Tibits im Zürcher Seefeld tragen von 40 Mitarbeitenden zwei ein solches Schild. Reto Frei, einer der Gründer, erzählt mir, sie hätten während der Corona-Zeit ihre Filialen in London schliessen müssen und einem verdienten Mitarbeiter angeboten, nach Zürich zu wechseln. Erst jetzt sei er gekommen und dabei, Deutsch zu lernen, «er ist aber noch nicht sattelfest». Deshalb trage er vorübergehend das Schild.
Das Tibits stelle nicht auf Expats ab. «Wir verstehen uns als Schaufenster einer modernen Schweiz. 40 Nationen arbeiten hier. Wir sind so international besetzt, wie es die Rezepte sind», sagt Frei. Niemand werde ausgeschlossen.
«Deutsch und Schweizerdeutsch werden durchgehend gesprochen.» Weitere Sprachen kämen hinzu. Also wieder keine englische Enklave.
Wo sind sie denn, die Expats? Ich «velöle» in die Bean Bank an der Europaallee, das soll eine englische Enklave sein. «Warum der Name?», frage ich Nikos Chalimourdas, den Inhaber. Er lacht.
In gestochenem Hochdeutsch, mit diesen hellen «ch», wie sie viele Griechen sprechen – und die arbeiten hier zuhauf – zeigt er auf die Grossbank nebenan: «Wir sind immer in der Nähe von Banken. Unsere Devisen sind die besten Bohnen aus aller Welt.»
Sprache ist lebendig
Bis auf wenige Ausnahmen würden hier alle Deutsch sprechen: «Ich selber habe Deutsch gelernt aus Respekt vor den Menschen. Wenn ich in diesem Land arbeite, will ich die Menschen verstehen.»
Andererseits seien ihre Kundinnen und Kunden mehrheitlich englischsprachig: Banker, Touristinnen, vom HB um die Ecke, rückseitig die grosse Suchmaschine. «Die bestellen auf Englisch. Manchmal fällt mir mitten in der Konversation ein: Der ist doch Schweizer. Dann reden wir Deutsch weiter.»
Sprachwissenschaftler Daniel Perrin meint: «Wenn die Deutschschweizer Dialekte nicht zu allen Zeiten von anderen Sprachen inspiriert worden wären, dann wären wir heute ausserstande, die Welt, in der wir leben, einzufangen mit dieser Sprache und uns zu vermitteln. Herausforderung ist das Lebenselixier für eine Sprache. Das war schon immer so!»
Eine Gefahr, wenn überhaupt, sieht Perler, bei der Überbrückung der Landessprachen, wenn man aufs Englisch ausweicht, weil man schlechter Italienisch spricht.
Englisch kommt. Aber keine Angst: Das Schweizerdeutsche «lebt und weiss sich zu wehren», sagt Sprachwissenschaftler Daniel Perrin. Kreativ und sprachmächtig. In diesem Sinne: Noch frohes Kompiüterle.
Englische Ausdrücke, eigenartige Pluralformen oder Germanismen: Der schöne Schweizer Dialekt geht bachab. Wie schlimm steht es um unsere Sprache? Nadia Zollinger ist besorgt, doch SRF-Dialektforscher Markus Gasser sieht die ganze Sache lockerer.
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