Schon als junges Mädchen schrieb Angela Hui-Chia Yu gern. Das Schönschreiben, die chinesische Kalligrafie, wurde ihre Leidenschaft. Heute unterrichtet sie die Schreibkunst an der Volkshochschule Basel und stellt aus.
Zwischen Angst und Optimismus
Das Schreiben beruhige sie, wenn die Angst hochkommt, etwa um die Verwandten in Taiwan. Die Angst, dass die Volksrepublik China Taiwan annektieren könne, sei immer da. Die Mehrheit der Menschen in Taiwan fürchtet, dass dann ihre Freiheitsrechte ebenso eingeschränkt würden wie in Hongkong. Aber man habe mit dieser Angst leben gelernt.
Die Menschen in Taiwan seien grundsätzlich optimistische Menschen. «Und wir lieben unsere Demokratie und Freiheit», bekräftigt die Basler Taiwanesin Yu mehrfach und genehmigt sich einen Schluck feinsten Oolong-Tee aus der Heimat ihres Vaters.
Kalligrafie als Meditation
Die 48-jährige Angela Hui-Chia Yu lebt schon die Hälfte ihres Lebens in Basel. Ihr chinesischer Vorname Hui-Chia bedeutet übersetzt Orchidee (Hui) und das Chia kommt von Chiayi – der Heimatstadt ihres Vaters in Taiwan.
Aus der Ehe mit einem Schweizer hat sie zwei erwachsene Kinder. Mit ihnen spricht Angela Yu nur Chinesisch. Es war ihr wichtig, dass sie die chinesische Sprache beherrschen. So kann ihre 22-jährige Tochter Anja aktuell in Taiwan leben und arbeiten.
Wenn Angela Yu den Pinsel in schwarze Farbe taucht und sanft aufs edle Papier setzt, entspannt sie sich sofort. Fast egal, welchen Text sie schreibt. Sie kalligrafiert Bibelworte und das «Vater Unser» ebenso wie Sprüche von Laotse oder 1000 Jahre alte chinesische Verse.
Das Schreiben sei eine Art Meditation. Da könne sie komplett abschalten. «Egal, was vorher gerade passiert ist», lächelt sie.
Christin in Taiwan
Die Basler Taiwanesin ist römisch-katholisch. Sie blickt dankbar auf ihre Schulzeit zurück, an einer kirchlichen Highschool in der Stadt Tainan. Die Ordensschwestern dort sorgten für ihre fundierte Ausbildung und weckten die Freude an Kalligrafie. Auch ihren christlichen Vornamen «Angela» (Engel) habe ihr eine Schwester gegeben.
Mit 14 Jahren liess sie sich taufen, weil sie es selbst so wollte. Ihre Angehörigen haben andere Religionszugehörigkeiten. Das sei kein Problem: «Wir haben Religionsfreiheit.» Tatsächlich rangiert auf dem Religionsfreiheitsindex der Welt Taiwan ganz oben.
Buddhismus und Taoismus sind die Hauptreligionen in Taiwan. Die Hälfte aller Menschen praktiziert gleichzeitig den traditionellen chinesischen Volksglauben. Rund 6 Prozent sind christlich.
Wie viele andere waren die christlichen Schulschwestern in den 1960er-Jahren aus der kommunistischen Volksrepublik China auf die Insel geflohen. Hier bauten sie ihre Mädchenschule neu auf.
Taiwan als Hüterin der Langschrift
Taiwan habe die chinesische Kultur bewahrt, meint Angela Yu. Für Yu wurde die alte chinesische Kultur durch die Kulturrevolution in der Volksrepublik China zerstört.
Dazu gehöre auch die traditionelle chinesische Langschrift, die Angela Yu kalligrafiert. In der Volksrepublik wurde diese abgeschafft und durch vereinfachte Schriftzeichen ersetzt, um das Lesen und Schreiben schneller zu verbreiten.
Angela Hui-Chia Yu unterrichtet die Kalligrafie-Kunst in Basel. Ihre Kurse über Taiwans Kultur, inklusive Kochen und Backen, sind gut besucht. «Es macht mich glücklich, wenn meine Kursteilnehmenden nachher selbst nach Taiwan reisen. Einige lernen sogar die Sprache», erzählt sie.
Für den ökumenischen Weltgebetstag am 3. März hat die Kulturvermittlerin Yu eine spezielle Kreation gebacken: das klassisch-taiwanesische Ananas-Guetzli in Form des Inselumrisses Taiwans.
Ein Staat ohne Anerkennung
Was ihre Botschaft an die Menschen hier sei? Angela Yu zögert nicht mit ihrer Antwort: «Dass es uns gibt, dass Taiwan ein Land ist. Dass es uns als Demokratie gibt.»
Taiwan wird nur von 13 Staaten der Welt als souveräner Staat anerkannt. Der Vatikanstaat war der erste, der Taiwan anerkannte, schon 1942. Die Schweiz hingegen anerkennt Taiwans Souveränität nicht, die Insel ist auch nicht Mitglied der UNO.
Wegen der Ansprüche der Volksrepublik China auf Taiwan führt jeder Besuch offizieller Staatsvertreter anderer Länder zu Protesten aus Peking. Zum jüngsten Eklat kam es beim Besuch einer Delegation des US-Kongresses in Taipeh. Noch heftiger war der chinesische Protest, als der Dalai Lama die Insel besuchte, erinnert sich Angela Yu.
Gleichberechtigt, aber doppelbelastet
Für den diesjährigen Weltgebetstag haben Christinnen aus Taiwan die Texte verfasst. Sie werden in über 100 Ländern gebetet. Auch Angela Yu wirkt am Weltgebetstag mit.
Wie ist die Situation von Frauen in Taiwan heute? «Frauen sind gleichberechtigt. Aber sie tragen im Haushalt und vor allem bei der Altenpflege die Hauptlast», sagt Angela Yu. Da die meisten Frauen 100 Prozent berufstätig seien, sei das eine enorme Belastung. «So etwas wie Teilzeit gibt es nicht in Taiwan.»
Eine von Yus Freundinnen in Taiwan sagt, sie fühle sich wie ein Tintenfisch. An jeder Hand Arbeit, die es zu jonglieren gelte.
Aussicht auf Aufstieg
Erst allmählich etablieren sich Pflegeheime und professionelle häusliche Pflege. Dazu kommen Arbeitsmigrantinnen aus Indonesien und den Philippinen nach Taiwan. Das bringt neue Probleme: die Gefahr von Ausbeutung dieser Frauen aus dem Ausland.
Taiwanesinnen können aber beruflich aufsteigen, betont Angela Yu: «Ja, Frauen bekleiden in Taiwan Führungspositionen. 30.5 Prozent der Führungskräfte dort sind Frauen. In der Schweiz sind es nur 24 Prozent.»
Trotzdem ist Taiwan keine Insel der seligen Frauen. Sie tragen die Hauptlast für den Erfolg des Landes in Wirtschaft und Gesellschaft. Taiwans Freiheit zu erhalten, sei aber aller Mühe wert, sagt Angela Hui-Chia Yu und nimmt noch einen Schluck Tee.