Die kahle Stelle am Hinterkopf hatte Rahel Welsen erst gar nicht ernst genommen. «Das wird schon wieder», meinte auch die Coiffeuse. Aber es wurde nicht besser, es wurde immer schlimmer. Büschelweise fielen die Haare aus.
Bald half es auch nicht mehr, die Haare irgendwie zu drapieren. Zu gross und zu zahlreich klafften die Löcher. Das alles ist über zehn Jahre her, Rahel Welsen war damals 32. Heute erinnert sie ein Foto an diese Zeit: «Ich mit Mütze, und ich schaue unendlich traurig. Ich könnte gleich wieder heulen, wenn ich das sehe.»
Frauen, die ihre Haare verlieren, verlieren oft auch das Selbstbewusstsein. Denn für viele gehören Haare – besonders lange – zum weiblichen Selbstverständnis.
Rahel Welsen ging es zuerst nicht anders. Dann aber entschied sie sich für den Kahlschlag, rasierte auch die letzten Reste weg. «Das war furchtbar emotional. Aber es war auch eine Befreiung. Ich musste nicht mehr so tun, als wäre da noch etwas, was es schon lange nicht mehr gab.»
Blöde Blicke aushalten
Von nun an war Rahel Welsen sichtbar «oben ohne» und musste lernen, mit blöden Blicken umzugehen. Denn eine kahlköpfige Frau fällt auf: «Da glotzen die Leute viel mehr als bei einem Mann mit Glatze – und denken sofort: Hat die Krebs?»
Rahel Welsen hatte nicht Krebs, sondern kreisrunden Haarausfall. Von dieser Autoimmunerkrankung sind ein bis zwei Prozent der Bevölkerung betroffen. Bei ihnen fallen innert Tagen bis Wochen die Haare aus. Frauen wie Männer trifft es gleich häufig, aber Frauen leiden ungleich stärker.
Die Ursache ist eine ganz andere als bei der «normalen» Männerglatze: Bei ihr verkümmern die Haar-Wurzeln allmählich, weil sie empfindlich auf ein Stoffwechselprodukt des Hormons Androgen reagieren. Diese Veranlagung kann auch Frauen treffen, aber kahl werden sie deswegen kaum.
Kahl auf dem Kopf – und im Gesicht
Beim kreisrunden Haarausfall wachsen bei rund der Hälfte der Betroffenen die Haare wieder nach. Rahel Welsen gehörte nicht zu ihnen.
Aber sie hielt den Blicken stand: «Ich hatte immer ein gutes Körpergefühl, das half.» Ebenfalls geholfen habe ihr Talent zur selektiven Wahrnehmung, sagt Welsen: «Sachen, die mir nicht guttun, blende ich aus.»
Natürlich gab es Momente der Erschütterung, etwa als vorübergehend auch die Körperhaare ausfielen: «Als ich mir das Gesicht abtrocknete, wischte ich gleich auch die Augenbrauen weg» erinnert sich Welsen. Für sie war das ein Schock. «An den kahlen Kopf konnte ich mich gewöhnen, aber Augenbrauen und Wimpern zu verlieren, das war schlimm.»
Betroffene ins rechte Licht rücken
Heute ist die Glatze das Markenzeichen von Rahel Welsen. Mit der Zeit wurde sie nicht nur stärker, in ihr reifte auch eine Idee: «Ich bin Fotografin. Also sagte ich mir: ‹Mach was draus!›»
Welsen suchte über Online-Foren Frauen, die ähnliches erlebt hatten. Frauen, die weniger gut damit klarkamen, weniger souverän «oben ohne» durchs Leben gingen.
«Die meisten kahlköpfigen Frauen leiden sehr an der Glatze, sie verstecken sie unter Perücken oder Tüchern. Ich wollte ihnen zeigen: ‹Schaut her – so schlecht seht ihr nicht aus!›»
«Glatze zeigen» heisst denn auch das Fotoprojekt mit 22 Porträts kahler Frauen, die geschminkt und geschmückt frontal in die Kamera schauen: mal scheu, mal keck – aber immer würdevoll.
Das sei ihr wichtig gewesen, sagt Rahel Welsen, «ich wollte nicht einfach Frauen mit Glatze zeigen, sondern Frauen mit unterschiedlichen Gesichtern – die halt Glatze tragen.»