Rodney Möckli schaut angespannt aus dem Zugfenster. Er hat diesen Tag lange herbeigesehnt: Der Ostschweizer lässt sich seine Haare transplantieren.
Seit einigen Jahren schon lichten sich die Stellen vorne auf Möcklis Kopf. Früher trug er einen Afro. Er liebte es, sich zu frisieren, trug verschiedene Haarschnitte, ging gerne zum Coiffeur. «Heute ist das nicht mehr möglich», sagt der 38-Jährige: «Ich muss die Haare immer kurz tragen, sonst sieht es ungepflegt aus.» So fühle er sich nicht mehr wohl.
Bei einem Zürcher Start-up werden Möckli über 3000 Haarwurzeln, sogenannte Grafts, vom Hinterkopf nach vorne transplantiert. 6000 Franken kostet der Eingriff – zwei Franken pro Haar.
Die Kosmetikindustrie weiss, dass sie von Haarverlust profitieren kann. Eine Google-Suche nach Lösungen für Haarausfall liefert zehntausende Resultate.
Seit einigen Jahren schiessen moderne, aus der Kosmetikindustrie gewachsene Haarkliniken wie Pilze aus dem Boden. Sie werben mit Slogans wie: «Detox für die Haare», «Laser-Licht zur Stimulation der Haarwurzel» oder «Eigenbluttherapie für volles, kräftiges Haar».
Laser und Eigenblutplasma
Bei der «Low-Level-Lasertherapie» beispielsweise wird die Durchblutung der Kopfhaut mit einem Laser stimuliert. Bei der «Platelet Rich Plasma»-Therapie, kurz PRP, wird Eigenblutplasma in die Kopfhaut gespritzt, um das Haarwachstum anzuregen.
Rund 3000 Franken kosten solche Therapien. Sie wirken für vier Monate. Setze man die Therapien ab, fallen die Haare wieder aus, mahnen die Anbieter. So gewinnen die Kliniken treue Stammkunden, trotz unsicheren Erfolgschancen.
Widersprüchliche Studien
«Die Studienlage zu diesen beiden Therapien ist dünn und unbefriedigend», sagt Thomas Kündig, Direktor der Dermatologischen Klinik des Universitätsspitals Zürich. So zeige eine Studie zwar, dass das Einspritzen von Blutplasma tatsächlich die Haarwurzel stärkt. Eine andere Studie aber belege, dass das Haarwachstum nach der PRP-Therapie schlechter sei als zuvor.
Solange die Wirksamkeit nicht eindeutig bewiesen sei, würde er persönlich kein Geld in die Therapien investieren, sagt Kündig. In seine Sprechstunde kommen regelmässig verzweifelte Patientinnen und Patienten, die hunderte von Franken für Mittel ausgegeben haben, die Hoffnung weckten – aber nichts bewirkten.
«Vielfach kosten kosmetische Produkte das Zehnfache eines medizinischen Produktes. Leider stelle ich eine Art Wucher fest. Die Kosmetikindustrie hat das Geschäft mit den Haaren entdeckt und macht Versprechen, die sie nicht halten kann», so Kündig.
Versöhnung mit dem Haarausfall
Christos Stavrou kennt diese Leidensgeschichten. Jahrelang investierte er viel Geld in Heilmittel und Shampoos. Sie versprachen zwar viel, nützen aber nichts: Seine Frisur glich weiterhin einem Cabriolet, wie er heute flachst.
Stavrou sagt aber auch: «Wir leben in einer Kultur, in der Werbetreibende Unsicherheit schaffen.» Die Kosmetikindustrie sage: «Du hast Haarausfall, das ist ein Problem. Wir haben die Lösung, ohne uns schaffst du das nie.» Schliesslich gebe er dem Unternehmen sein Geld, damit es ihm die Unsicherheit nehme.
Statt sich mit seiner Unsicherheit an die Kosmetikfirmen zu wenden, müsse man sie annehmen, ist Stavrou überzeugt: «Nur die Männer, die sich mit dem Haarausfall auseinandersetzen und sich mit ihm versöhnen, werden zu selbstbewussten Glatzenträgern.»
Christos Stavrou spricht aus Erfahrung: Seine schulterlangen, lockigen Haare begannen mit 20 auszufallen. Lange habe er das, was auf seinem Kopf noch übrig blieb, mit Gel und Haarspray zu einer Art Frisur zementiert. Den Druck, die Glatze um jeden Preis kaschieren zu müssen, empfand er als entwürdigend. Doch es fehlte im lange der Mut zum Kahlschlag. Erst als er es tat, fühlte er sich frei.
Haarlos glücklich
Seine positive Erfahrung wurde für Stavrou zur Mission. Er gründete die Plattform «wenighair.de» – eine Website samt YouTube-Kanal, Blog und Podcast. Seine Botschaft: «Steh zu deiner Glatze!» So will Stavrou Männer und Frauen mit Haarausfall zur Totalrasur bewegen.
Stavrou erzählt, er habe zum Beispiel mit 60-Jährigen gesprochen, die ein Leben lang versuchten, ihre Haare zu erhalten. Der Mut zur Rasur habe ihnen gefehlt: «Wenn sie endlich den Schritt zum Kahlschlag gewagt hatten, fühlten sie sich von einer enormen Last befreit.»
Der Bedarf an praktischen und psychologischen Tipps rund ums Glatzetragen ist so gross, dass Christos Stavrou sich seiner Community seit zwei Jahren vollberuflich widmet: «Die grösste Sorge vieler ist die Ungewissheit, ob ihnen eine Glatze steht. Ob sie ohne Haare noch attraktiv genug sind – und ob ihnen die Glatze im Berufsleben zum Nachteil wird.»
Was passiert auf dem Kopf, was darin?
Christos Stavrou erinnert sich an eigene Erfahrungen aus dem Berufsleben. Bei seiner Arbeit als Designer habe er stets das Gefühl gehabt, dass Kunden dachten, ihm seien die Haare wegen Stress ausgefallen: «Ich war überzeugt, dass mein Umfeld denkt, ich sei der Aufgabe nicht gewachsen. Das alles fand jedoch nur in meinem Kopf statt und hatte nichts damit zu tun, was auf meinem Kopf war.»
Dass Männer mit Glatze tatsächlich anders wirken als Männer mit Haarpracht, zeigte 2012 eine Studie der Universität von Pennsylvania: Glatzenträger werden ihr zufolge nicht nur als grösser wahrgenommen (etwa 2,5 Zentimeter macht die Rasur aus), sondern auch als männlicher, dominanter, stärker und als bessere Leader.
Christos Stavrou sagt, er wirke seit der Totalrasur anders auf sein Umfeld: Die Leute schätzten ihn mutiger ein und ein ganz anderer Frauentyp flirte mit ihm.
Das habe er nicht allein der Glatze zu verdanken, sondern der Tatsache, dass er sie mit Stolz trage. Mit Glatze sei er ein anderer Mensch geworden, jemand, der Dinge ausprobiere, die er sonst nie angepackt hätte, sagt Stavrou stolz.
Haarausfall könne ein Problem sein, eine Glatze aber biete die Chance, eine neue, starke Persönlichkeit zu entwickeln. Diese Erfahrung hätten viele in Christos Stavrous Community gemacht.
«Die Transplantation hat sich gelohnt»
Rodney Möckli hingegen ist überzeugt: Eine Glatze steht ihm nicht. Ein Monat ist seit seiner Haartransplantation vergangen, nun ist Nachkontrolle. Möckli hatte kaum Schmerzen, aber einzelne Stellen auf dem Kopf fühlen sich seit der Operation taub an und viele der neu eingepflanzten Haare sind wieder ausgefallen.
Florian Scheppan, Assistenzarzt bei Hair&Skin, beruhigt den Patienten: «Dass ein Teil der Haare nach der OP wieder ausfällt, ist normal. Die wachsen umso schneller wieder nach. Das Gesamtergebnis ist gut, die Haarlinie natürlich.»
Um die lichte Stelle auf dem Hinterkopf verschwinden zu lassen, hat die achtstündige Operation nicht gereicht. Dafür wäre eine zweite Operation nötig. Möckli überlegt sich das Angebot und bilanziert: «Die Transplantation hat sich gelohnt. Wenn ich mich jetzt im Spiegel anschaue, habe ich ein Lächeln im Gesicht.» Eine Glatze kam für Rodney Möckli nie infrage. Er wollte Haare – um jeden Preis.