Am 3. März 1978 sendet das Schweizer Fernsehen das rhetorische Aufeinandertreffen von Max Frisch und Bundesrat Kurt Furgler. Moderiert wird der Abend von Heiner Gautschy vor Publikum.
Im Abstand der Jahre hat sich dieses Aufeinandertreffen in den Köpfen derer, die sich daran erinnern, zum Highlight verklärt.
Dreiminütiger Angriff
Besonders in Erinnerung ist der Start von Frisch mit einem Frontalangriff auf Furgler. Der dauert drei Minuten. Bis Furgler Frisch mit der Frage unterbricht, ob er wenigstens «Guten Abend» sagen dürfe.
Furgler hat die Lacher auf seiner Seite und nimmt Frisch mit seiner Bewunderung für den Dichter den Wind aus den Segeln.
Es folgt eine eher philosophische Auseinandersetzung: «Wie ist das Verhältnis von Künstlern zu Staat, Politik und Gesellschaft? Und: Was soll, muss, kann Kunst?»
Was soll, muss, kann Kunst heute?
Stellt man Yves Bossart, dem Moderator der «Sternstunde Philosophie», heute diese Frage, verweist er auf ganz verschiedene philosophische Sichtweisen: Während Horaz noch von «nützen und erfreuen» spreche, plädiere Schiller für die «Schaubühne als moralische Anstalt» – mit Welt- und Selbsterkenntnis.
Die kritische Distanz der Künstler zur Gesellschaft lasse sich bei Adorno als Position finden: Kunst müsse wehtun. Sie müsse den Zeitgeist spiegeln, wie Hegel das nannte, während es für Marx nicht reicht, den Spiegel vorzuhalten, da gehöre schon ein Hammer her.
Bossart selbst findet: «Gute Kunst ist utopische Gesellschaftskritik. Sie verändert unsere Sichtweise, im Idealfall unser Leben.»
Die Plattentektonik unserer Seele
Künstler nehmen oft für sich in Anspruch, Fragen zu stellen, Antworten hätten sie keine. Reicht das noch? «Ja, wenn die Fragen gut sind», sagt Bossart: «Neue Fragen öffnen neue Denkhorizonte und können meine ganze Welt auf den Kopf stellen.»
Die Rolle der Künstler sei damals wie heute, «uneinig zu sein mit der eigenen Zeit. Das gibt dem Künstler seine Daseinsberechtigung.» Sagt Bossart und zitiert damit André Gide.
Er selbst würde die Künstlerrolle so beschreiben: «Künstler sind Randständige, mit einem Blick von ausserhalb. Sie irritieren und berühren. Wir Zuschauer und Leser können in fremde Welten eintauchen und dadurch die eigene besser verstehen.» Kunst sei wichtig, sagt Bossart, «weil wir Narrationen brauchen, um die Wirklichkeit zu begreifen.»
Kunst ist weniger politisch als utopisch
Sie löse keine Detailprobleme und suche keine Kompromisse, «sondern setzt bei der Wurzel an, ähnlich wie die Philosophie.» Gelungene Kunst gehe tief: «Sie bewegt die Plattentektonik unserer Seele, und leitet uns anschliessend wie ein neues Lebensideal.»
Im Film sieht Bossart das mächtigste künstlerische Medium der Gegenwart. «Diese ‹Gesamtkunstwerke› spiegeln den Zeitgeist und sind damit wichtig für unser Selbstverständnis. Im Gegensatz zur Museumskunst erreichen sie auch die breite Gesellschaft, ähnlich wie Kunst im öffentlichen Raum.»
Keine Frage der Aktualität
Wie aktuell Kunst sein soll, darüber scheiden sich die Geister, etwa wenn es um Kunstwerke geht, die das Schicksal flüchtender Menschen zum Inhalt haben.
Yves Bossart geht es a priori nicht um Aktualität, sondern um Ästhetik: «Aus meiner Sicht braucht es immer einen ästhetischen Mehrwert. Die Botschaft allein reicht nicht. Es braucht eine Idee, wie man diese Botschaft transportiert. Inhalt und Form sollten untrennbar verbunden sein. Wenn man dasselbe auch anders sagen kann, ist es keine gute Kunst.»
Inszenierte Realität versus realistische Inszenierung
Wir leben im postfaktischen Zeitalter, das Schlagwort unserer Tage. Während im Theater Rimini Protokoll oder Milo Rau dokumentarisch arbeiten, bedient sich etwa die amerikanische Administration eines driftenden Wirklichkeitsbegriffs. Theatralik und Wirklichkeit vertauschen die Bühnen.
Bossart sagt, Kunst schaffe den «Raum, wo man Zeit hat, über das moralische Elend der Welt nachzudenken. Ansonsten versinken wir in einer Flut von News und Negativmeldungen. Erst durch die Kunst verstehen wir, was da draussen tagtäglich passiert.»