1956 waren in den USA Präsidentschaftswahlen. So wie heute gewannen damals die Republikaner. Robert Frank war in Chicago, als die Demokraten ihren damaligen Kandidaten Adlai Stevenson aufstellten. Eines seiner Fotos zeigt den mächtigen New Yorker Politiker Carmine DeSapio mit Sonnenbrille und Zigarre in einer Debatte mit seiner Delegation am demokratischen Parteitag.
Heute würde man sagen, die USA waren tief gespalten. Denn so wie heute war das Land damals stark polarisiert. McCarthy jagte durchs Land und verfolgte alle Andersdenkenden und Kommunisten, der Koreakrieg hatte in den USA seine Spuren hinterlassen und die Bürgerrechtsbewegung begann mit ihren Protesten der gesetzlichen Rassendiskriminierung ein Ende zu setzen. Heute, wenn der zukünftige republikanische Präsident den Slogan «Fix it» deklariert, dann meint er die Grenzen des Landes, die Immigration und natürlich – und das hat sich seit den 1950er-Jahren kaum geändert – die Kaufkraft der Wähler.
Ein Zeitdokument der USA im Bild
Robert Frank war 1956 mit knapp 32 Jahren unterwegs mit seiner Familie. Er hatte ein Stipendium erhalten, um durch die USA zu reisen und den Zustand des Landes zu dokumentieren. Er war erst acht Jahre davor aus der Schweiz gekommen und war drauf und dran, das wichtigste fotografische Zeitdokument der 1950er-Jahre zu erschaffen.
Interessanterweise besass Frank zuvor nie ein Auto, es war wohl sein erster grosser Roadtrip auf vier Rädern. Seine Reise führte ihn in 48 Staaten, dabei nahm er 28’000 Bilder auf, das waren etwa 780 Filmrollen. Am Ende fanden 83 Bilder in das heute wohl berühmteste Fotobuch der USA «The Americans».
Ein «Poet des Blicks»
Das Bild von Carmine DeSapio in Chicago ist eines davon. Ein anders, das man sofort wiedererkennt, ist das Bild «Trolley», das Frank in New Orleans fotografiert hatte. Es zeigt die Seite eines Busses, in dem die Schwarzen Mitfahrenden hinten sitzen mussten, und das in einer Zeit, in derdie Rassentrennung in der Öffentlichkeit zu fallen schien.
Jack Kerouac, der berühmteste aller «Beatnik-Autoren», der auch das Vorwort für das Buch geschrieben hat, nannte Frank einen Poeten des Blicks. Und es gäbe niemanden, der eine Jukebox ebenso traurig in Szene setzen könne wie einen Sarg.
Bilder des Kapitalismus
Frank ist auch dort bildstark, wo es um die Arbeitsbedingungen des modernen Kapitalismus geht, in Fast-Food-Ketten oder am Fliessband. Die Schicksale der Unterschicht bedeuten ihm ebenso viel wie die Fragen der Herkunft und die immer wiederkehrende Hoffnung auf bessere Zeiten.
Wenn man heute einen Robert Frank in den USA losschicken würde, man hätte vergleichbare Bilder von der Kluft zwischen Reich und Arm und Bilder, die auch immer wieder von der Feindseligkeit innerhalb des eigenen Landes sprechen würden. Auch Frank wurde damals als Eindringling angesehen. Als Fotograf mit Schweizer Pass wurde er auch mal aus einem Staat gejagt, wenn seine «Visage» einem Deputy Sheriff nicht passte.
Vom Foto zum Film
Der frühe Erfolg seiner Bilder war für Robert Frank Fluch und Segen zugleich. Immer wieder lehnte er sich dagegen auf und Ende der 1950er-Jahre ersetzt er die Fotokamera durch den Film. Seine ersten Gehversuche im Umfeld der Beatniks gelten heute als die Anfänge des «Independent Cinemas» in den USA. Es sind sehr experimentelle Filme wie «Pull My Daisy» (1959), die jegliche klassische narrative Struktur vermissen lassen, aber in ihrer Radikalität dem Zeitgeist entsprachen.
Schon bald wird er von Grössen wie den Rolling Stones angefragt, ihre Tour «Exil on Main Street» zu dokumentieren. Was heute wie ein erfolgsversprechendes Zusammentreffen von Giganten aussieht, wurde zum Desaster. Der Film, den Frank drehte («Cocksucker Blues», 1972), wurde erst gar nicht gezeigt und später nur unter gewissen Bedingungen öffentlich gemacht. Zu schonungslos zeigte er das ausschweifende Leben der Rockmusiker, zwischen Drogenkonsum und freizügigem Sex, so dass die Band befürchtete, nie mehr in die USA reisen zu können und die Aufführung verbot.
Kompromisslos waren auch Franks spätere Filme, die sich unter anderem mit der persönlichen Tragik seines Lebens beschäftigten. Seine Tochter Andrea starb 1974 mit 20 Jahren bei einem Flugzeugabsturz in Guatemala, sein Sohn Pablo driftete ab in die Schizophrenie und beging 25 Jahre später Suizid. Im Film «Conversation in Vermont» (1971) reflektierte er über das nomadische Leben als Künstler und den Einfluss, den es auf die Familie hatte. In «Life Dances On» (1980) versuchte er filmisch mit dem Verlust geliebter Menschen umzugehen.
«The Lines of my Hand»: Bilder aus dem Alltag
Frank kehrte auch wieder zur Fotografie zurück. Vor allem im abgelegenen Cape Breton im Nordosten Kanadas, wo er sich seit den 70er-Jahren mit seiner zweiten Frau June Leaf immer wieder zurückzog, entstanden Fotos, die sich mehr und mehr mit seinem persönlichen Umfeld beschäftigten.
Es ging nicht mehr darum, die Welt abzubilden, sondern um seine persönliche Sicht der Dinge. So sind im zweiten wichtigen Fotobuch seiner Karriere «The Lines of my Hand» (1972) die ersten Collagen zu sehen und diese Mischung aus Texten und Bildern, die für seine spätere Karriere so wichtig wurden. Seine Karriere als Filmemacher hatte Spuren in der Fotografie hinterlassen. Das einzelne Bild interessierte ihn nicht mehr, das Serielle, das Bearbeitete, das Collagierte wurde seine neue Erzählweise.
Es sind denn auch diese Bilder, die jetzt in einer Retrospektive im Museum of Modern Art in New York zu seinem 100-jährigen Jubiläum zu sehen sind. Man wolle den anderen Robert Frank zeigen, neben den berühmten Bildern der «Americans», meint die Kuratorin Lucy Gallun.
Auch der Nachlass der June Leaf und Robert Frank Foundation will vor allem die weniger bekannten Bilder Franks in den nächsten Jahren in Museen platzieren. Es sind Bilder mit Titeln wie «Sick of Goodbys» oder «Fear / No Fear» oder «The Suffering, the Silence of Pablo», die Frank meist direkt auf die Negative der Bilder kratzte oder schrieb.
Und dann sind es doch wieder die «Americans», die den 2019 verstorbenen Fotografen einholen. So lagen während über 40 Jahren Abzüge der 83 Bilder der «Americans» in einem amerikanischen Bankschliessfach. Frank hatte sie ein letztes Mal in den 1980er-Jahren drucken lassen. Alle anderen Abzüge der Serie sind längst in Museen untergebracht. Dieses eine letzte Set von 83 Bildern, das heute im Besitz des Nachlasses ist, soll jetzt verkauft werden. Für einen zweistelligen Millionenbetrag.