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Körpereinsatz für die Kunst Warum stellt sich jemand splitternackt ins Kunsthaus?

Drei Darstellerinnen und Darsteller haben im Kunsthaus Zürich Performances von Marina Abramović nachgestellt. Was geschieht, wenn man sich nackt den Begegnungen mit Fremden aussetzt?

Es ist der 26. Oktober 2024. In weisse Kittel gekleidet gehen Ailin Nolmans und ihre Kollegin schweigend durch die Kunsthaus-Ausstellung – bis zu dem Raum, in dem sich bereits viele Neugierige versammelt haben. Für Nolmans ist es die erste Performance vor Publikum.

Sie legt den weissen Kittel ab, darunter ist sie nackt. Selbst die Bandage an ihrem verstauchten Fuss hat sie abgelegt. Kein Schmuck, kein Make-up. Nur ein Haargummi. Dann klettert sie eine Treppe hoch zum Velosattel, der in der Mitte angebracht ist, stülpt eine Hülle darüber und setzt sich darauf. Sie ruckelt noch ein, zweimal, um die richtige Position zu finden, hebt die Arme – und verharrt so die nächsten 45 Minuten.

Person mit ausgestreckten Armen vor hellem Hintergrund.
Legende: «Überleben und überstehen» – darin übte sich Ailin Nolmans während der körperlich und mental herausfordernden Re-Performance von Marina Abramovićs «Luminosity». SRF

«Ja, es macht an den Genitalien schon weh», sagt die junge Künstlerin. «Aber ich glaube, dass es für Menschen mit Penis noch härter ist.» Beim Zuschauen spürt man den Schmerz fast schon.

Kopf und Körper am Limit

Leiden für die Kunst: Dafür steht Marina Abramović. Seit den 1970er-Jahren schockiert die serbische Performance-Künstlerin ihr Publikum mit provokativen Inszenierungen.

Wer ist Marina Abramović?

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Eine Frau mit langen dunklen Haaren sitzt vor einem roten Hintergrund.
Legende: KEYSTONE/Til Buergy

Marina Abramović wurde 1946 in Belgrad geboren und gilt heute als eine der radikalsten Performance-Künstlerinnen der Welt. Seit den 1960er-Jahren setzt sich Abramović immer wieder Extremsituationen aus und lädt das Publikum ein, Teil von diesen Grenzüberschreitungen zu werden.

Im Rahmen ihrer berühmten Aktion «Rhythm 0» (1974) etwa hat die Künstlerin das Publikum eingeladen, mit ihrem Körper beliebige Aktionen mithilfe unterschiedlichster Objekte durchzuführen. In «The House With the Ocean View» (2008) lebte Abramović zwölf Tage in einem Museum – ohne Essen oder Unterhaltung, aber dafür vor Publikum. Auch in «The Artist Is Present» (2010) ging die Künstlerin an ihre Grenzen: Drei Monate lang sass sie Besuchern und Besucherinnen des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) gegenüber, ohne zu sprechen.

Bis Mitte Februar 2025 zeigte das Kunsthaus Zürich eine grosse Abramović-Retrospektive. Teil der Ausstellung waren Re-Inszenierungen einiger ihrer Arbeiten. Darunter die zuvor beschriebene Performance mit dem Velosattel, die «Luminosity» heisst.

In einer weiteren Performance mit dem Titel «Imponderabilia» müssen sich die Kunstschaffenden ebenfalls entkleiden. Nackt stehen sie sich im Türrahmen gegenüber, während sich das Publikum durch sie durchschlängeln muss, um in die Ausstellung zu gelangen.

Zwei Menschen stehen sich nackt gegenüber in einer Galerie.
Legende: Es wird eng: Zwischen Gaby Frey (links) und Luca Klett (rechts) bleibt während «Imponderabilia» gerade so viel Platz, dass sich ein Mensch zwischen ihren nackten Körpern durchschlängeln kann. SRF

Für diese Re-Inszenierungen wurden 23 Performerinnen und Performer gecastet. Beworben hatten sich 850 Menschen. Die Abramović-Assistentin Rebecca Davis suchte gezielt nach Personen, denen es nicht nur um das Prestige ging, sondern darum, die eigenen Grenzen wahrnehmen und überschreiten zu wollen. Und dennoch: Einmal für Abramović zu performen - davon träumen viele.

Es geht um mehr als den Lebenslauf

Auch für den 25-jährigen Luca Klett ist die Teilnahme ein Traum. Er hat Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste studiert und steht am Anfang seiner Karriere. Bislang trat er vor 20 Leuten auf. Die Abramović-Ausstellung bietet Klett die Gelegenheit, vor grösserem Publikum zu stehen – und könnte für ihn ein Sprungbrett in die Kunstwelt sein.

Drei Personen sitzen lächelnd in Sesseln.
Legende: Zusammen halten sie durch: Luca Klett, Gaby Frey und Ailin Nolmans (von links). SRF

Oder eben Ailin Nolmans. Die ausgebildete Schauspielerin studiert Literatur- und Populärwissenschaften an der Universität Zürich. Auch bei ihr macht sich die Teilnahme an der Ausstellung gut im Lebenslauf. Doch Nolmans möchte vor allem Grenzen ausloten.

Als 17-Jährige hat sie sexuelle Gewalt erleben müssen, konnte sich aber aus eigener Kraft aus der bedrohlichen Situation befreien. Die Stärke, die sie damals in sich fühlte, will sie immer wieder spüren. Es ist der Glaube daran, dass durch wiederholtes Erleben von Schmerz eine Transformation stattfinden kann, der Nolmans und Abramović eint.

«Ich sterbe ja sowieso»

Bei Gaby Frey ist das etwas anders. Sie wurde vor anderthalb Jahren als Pflegefachkraft pensioniert. Nachdem sie ein Jahr lang jeden Morgen glücklich aufgewacht sei, weil ihr keine beruflichen Verpflichtungen mehr im Nacken sassen, hätte sie gewusst, dass es Zeit für eine neue Herausforderung ist. Zeit, um die eigene Komfortzone zu verlassen.

Die Teilnahme an den Performances sei auch eine Rückkehr zu ihrem früheren Leben. 1982 hatte Frey den Zirkus Federlos mitgegründet, ein alternatives Theaterprojekt mit Zelt und Manege, aber ohne Tiere. Es gehe ihr darum, Geschwindigkeit zu drosseln. Sterben werde sie eh, wozu sich beeilen? Abramović sei genau richtig dafür.

Zwischen Ohnmacht und Energieaustausch

Alle drei verbrachten die letzten vier Monate meist im Kunsthaus. Stellten sich nackt in den Türrahmen oder sassen ebenso nackt auf dem Velosattel. Es seien auch Tränen geflossen, sagt Klett.

Gaby Frey ist ohnmächtig geworden, aber mental sei es für sie keine Herausforderung gewesen. Im Gegenteil: Manchmal sei es sogar langweilig gewesen. Gleichzeitig sei es aber auch etwas Schönes, die Langeweile auszuhalten.

Gruppe von Menschen im Gespräch in einem Raum.
Legende: Um allen 23 Ausgewählten Mut zuzusprechen, besuchte Marina Abramović die Darstellerinnen und Darsteller kurz vor der Ausstellungseröffnung im Kunsthaus Zürich. SRF

Ailin Nolmans erzählt von wunderbaren Momenten mit dem Publikum, in denen Energieaustausch stattgefunden habe. Das Publikum sei meist sehr vorsichtig und sogar herzig gewesen. Und dennoch ist es mehrmals zu übergriffigem Verhalten und Berührungen gekommen.

Unerwünschte Nachrichten und Berührungen

Zum einen hat Ailin Nolmans auf Instagram Nachrichten von einem Mann bekommen, der sie als «das ultimative Zückerli» und «atemberaubend sexy» bezeichnete. Er wollte Nacktfotos von ihr machen. Hier hat sich sofort das Kunsthaus eingeschaltet und mit Hausverbot gedroht.

Zum anderen wurden einige Performerinnen und Performer übergriffig angefasst. Ailin schildert einen Vorfall, bei dem ein Mann mit seiner Nase über ihre Wangen gestreift ist, während sie nackt im Türbogen stand. So etwas passiert nicht zufällig. Offensichtich können nackte Körper auch im Jahr 2025 immer noch eine Herausforderung darstellen.

Gemeinsam durch den Schmerz

Hat denn die Performance nun ihr Leben verändert? Das solle man sie in einem Jahr nochmal fragen, sagt Gaby Frey.

Worauf sich alle drei einigen können: Der Zusammenhalt unter den Performern sei einzigartig gewesen – er habe sie durch die Momente von Schmerz und emotionalen Herausforderungen getragen.

SRF 1, Sternstunde Kunst, 9.3.2025, 12:00 Uhr

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