Es beginnt langsam. Fast schon zärtlich. Die ersten Bewegungen der Bürste durch ihr Haar. Ihr schönes, langes Haar. Man schaut der Frau gerne zu. Ihre Performance strahlt eine gewisse Anmut aus. Mit der Zeit werden ihre Bewegungen schneller und aus der Anmut wird Anstrengung. Aus der Anstrengung wird Wut und aus der Wut wird Panik. Und am Ende nur noch Verzweiflung.
Je heftiger gebürstet wird, desto mehr verwandelt sich die Schönheit in Chaos. Und je brutaler die Bürste über die Haare fegt, desto lauter wird auch die Stimme der Frau: «Art must be beautiful», sagt sie: «The artist must be beautiful!» Man versteht sehr schnell, was sie damit nicht meint.
Es sind die Proben am Kunsthaus Zürich Mitte Oktober für die Marina Abramović Retrospektive. Frauen und Männer mit kurzen und langen Haaren werden dafür ausgesucht. Abramovićs Performance nennt sich «Art Must be Beautiful», stammt aus dem Jahr 1975 und dauerte damals 23 Minuten. Heute führt sie ihr Werk nicht mehr selbst auf.
Ein Leben auf Risiko
Inzwischen 78 Jahre alt, trainiert sie jüngere Performende. «Mich zu wiederholen, interessiert mich nicht», sagte sie: «Ich will Neues ausprobieren und Dinge riskieren, denn nur, wer etwas riskiert, kann auch scheitern und Scheitern gehört zum Erfolg.»
Riskiert hat sie einiges in ihrer 50-jährigen Karriere. Schon in einer ihrer ersten Performances «Rhythm 5» 1972, damals im ehemaligen Jugoslawien, legte sie sich am Boden mitten hinein in die Umrisse eines brennenden Sterns.
Das Feuer um sie herum war so stark, dass ihr der Sauerstoff wegblieb und sie in Ohnmacht fiel. Erst als die Zuschauenden merkten, dass sie sich trotz Flammen an den Beinen nicht bewegte, kamen sie ihr zu Hilfen und trugen sie ohnmächtig hinaus. Danach deklarierte Abramović die Ohnmacht zum Teil der Performance.
Ohnmacht als Lebenselixier
Seither gehört die Ohnmacht zu Abramović. In den frühen 70er-Jahren galt sie als die verrückte Künstlerin aus dem Osten, die die Ketten der Vergangenheit ablegen wollte. Die den autoritären Staat und den Kommunismus verdammte und auf der Suche nach der absoluten Freiheit bis an die Grenze des Erträglichen ging. Abramović war die Nische der Nische – sogar in der Kunstwelt.
«Heute wären solche radikalen Performances kaum mehr möglich, auch nicht nachgestellt», sagt sie und hält diese Entwicklung für falsch: «Die politische Korrektheit der heutigen Zeit kastriert jegliche Kreativität.»
Eine Performance 1974 in Neapel endete beinahe in einer Vergewaltigung. Abramović stand reglos in der Galerie, auf einem Tisch lagen 72 Objekte, daneben die Aufforderung ans Publikum, alles mit ihr anzustellen, was sie wollten. Die Objekte waren teils harmlos, teils gefährlich: eine Rose, eine Pistole, mehrere Messer und eine Kugel.
Die Besucher gingen weit, sehr weit. So weit, dass nach sechs Stunden, als Abramović wieder aus ihrer passiven Rolle herausschlüpfte, alle davonrannten. Sie hätten sich so sehr dafür geschämt, was sie der Künstlerin angetan hatten. So jedenfalls beschreibt sie es in ihrer Biografie «Durch Mauern gehen»: Ein Mann legte ihr die geladene Pistole so in die Hand, dass sie auf sich selbst zielte. Wären die Frauen nicht gewesen, dann wäre etwas Schlimmes passiert, schreibt sie.
Das Publikum als Teil der Performance
«Es geht nicht um mich, es geht ums Publikum.» Diesen Satz sagt sie gerne. Sie sieht sich bis heute als grosse Projektionsfläche für die Zuschauenden. War die Projektionsfläche in den 70er-Jahren noch klein, so wurde sie spätestens 2010 mit ihrer Sitzperformance im Museum of Modern Art in New York riesig.
Jeder Besucher und jede Besucherin konnte sich ihr gegenübersetzen und ihr in die Augen schauen – und das für 720 Stunden. Sie sass drei Monate lang jeden Tag acht bis zehn Stunden im Museum: ohne Essen und Trinken. Dabei blickte sie rund 1500 Menschen ins Gesicht. Sie wurde zum Publikum und das Publikum wurde sie. Diese Selbstaufgabe, diese totale Entleerung der eigenen Persönlichkeit, machte sie zur Projektionsfläche für 800’000 Menschen. Das Museum wurde zum Wallfahrtsort.
Die Entleerung des Ichs
In den 80er-Jahren verbrachte Abramović zusammen mit ihrem damaligen Partner und Weggefährten Ulay ein Jahr lang in Australien. Sie interessierten sich für die indigenen Völker, für die Songlines, bei denen die Natur über das Schicksal der Menschen bestimmte. Ein paar Jahre später waren es dann die tibetanischen Mönche, die ihnen die Meditation näherbrachten.
Marina Abramović sah in den Praktiken der Mönche und Urbewohner Parallelen zu ihren früheren Performances, in denen sie Schmerz und Selbstaufgabe thematisierte. Die Überwindung des Ichs, das Erreichen eines anderen Bewusstseinszustandes würden ihr helfen, ihre Ausdauer-Performances durchzustehen.
Von da an traten in den 80er- und 90er-Jahren immer wieder auch Mönche oder Aboriginal People in ihren Performances auf, die sie zusammen mit Ulay aufführte. Auch in der Zusammenarbeit mit Ulay ging es immer wieder um die Auflösung des Ichs oder die Symbiose mit dem anderen. In Performances wie «Rest Energy» hält sie den Bogen und er den Pfeil, der direkt auf ihr Herz zielt. In der Arbeit «Breathing In/Breathing Out» (1977) atmen sie, wie bei einem Kuss, solange dieselbe Luft ein und aus, bis kaum mehr Sauerstoff übrigbleibt und sie fast kollabieren.
Die Symbiose mit Ulay wurde zu viel
Und so wurde eines ihrer ambitioniertesten Projekte zum grossen Trennungs-Showdown: 1988, zu einer Zeit, in der noch kaum westliche Touristen China bereisen konnten, begehen sie die gesamte Länge der Chinesischen Mauer. Allein, um die Bewilligungen zu erhalten, vergingen Jahre und die chinesischen Behörden mussten mit viel Geld bestochen werden.
Als es dann so weit war, begann Ulay im Westen und Marina im Osten, immer begleitet vom chinesischen Militär. Als sie sich drei Monate später in der Mitte der Mauer trafen, wussten sie, es ist das Ende ihrer Beziehung. Sie trennten sich und Abramović wird wieder zur eigenständigen Künstlerin.
Je länger ihre Karriere andauerte, desto mehr rückte die Überwindung persönlicher Grenzen in den Fokus. Es sind nicht nur Grenzen der körperlichen Unversehrtheit, sondern auch Grenzen der Scham und dieser Wille, sich öffentlich aufzulösen, zu peinigen. So schrubbte sie 1997 während der Biennale in Venedig stundenlang unter quälendem Gestank blutige Rinderknochen als Symbol für die Grausamkeit des Jugoslawienkriegs.
Oder verbrachte für die Performance «The House with Ocean View» (2002) zwölf Tage am Stück in einer Galerie ohne Essen und nur mit Wasser, wobei man ihr bei allen intimen Verrichtungen zugucken konnte.
Leid, Schmerz und Sterblichkeit
Was will sie mit dieser ständigen öffentlichen Zurschaustellung von Leid und Schmerz bewirken? Auf die Frage, ob sie Schmerz einfach schön fände, antwortet sie: «Wer will Schmerz, wer will Leid? Ich sicher nicht!» Es ginge ums Konzept: «Menschen fürchten sich vor drei Dingen: Leid, Schmerz und Sterblichkeit. Diese Themen werden in jeder Kunstform erforscht: im Film, in der Musik, in der Malerei. Ich thematisiere dasselbe mit meinem Körper», erklärt sie.
Seit der MoMa-Performance hat sich für Abramović alles geändert. War sie vorher eine unter vielen bekannten Künstlerinnen, gehört sie heute zu den veritablen Stars. Ihr Image der Frau, die alles durchhält, strahlt aus in alle Gefilde der Popkultur. Musikerinnen, Filmemacher, Schauspielerinnen: Alle wollen mit «Marina» zusammenarbeiten. Sie ist zu einer Marke geworden, die sie heute mit ihren 78 Jahren genüsslich ausschlachtet.