Marina Abramovićs frühe Performances sind geprägt von Schmerz: Sie ritzt sich mit einer Rasierklinge ein Pentagramm in den Bauch und lässt sich vom Kunstpublikum ausziehen und verletzen.
Spätestens seit ihrer legendären Performance im New Yorker MoMA gilt sie als die einflussreichste Performance-Künstlerin unserer Zeit. Nachdem sie drei Monate schweigend an einem Tisch 1500 Besuchende empfangen hatte, wurde ihr Gesicht zur Ikone.
Um dieses Gesicht geht's im neuesten Projekt: die provokative Performance-Künstlerin bringt ihre Beauty-Line raus. Die gleiche Frau, die jahrelang ihren Körper geschunden und Grenzen ausgelotet hat, redet jetzt von innerer Ruhe und Langlebigkeit.
Mehr als bloss Skincare
«Natürlich ist das auch Selbstvermarktung», sagt Mirjam Varadinis. Sie kuratiert die Marina Abramović -Retrospektive kommenden Herbst im Kunsthaus Zürich. Abramović geniesse den Starkult. Aber: «Selbstinszenierung gehörte schon immer zu Abramović», so Varadinis.
Doch es steckt mehr dahinter: Ihre Wellness-Linie, mit dem Titel «Marina Abramović Longevity Method», habe viel mit ihrem Kampf für ihre Gesundheit zu tun. Denn: Dem Tod, den sie in ihren Performances stets herausforderte, kam sie letztes Jahr erschreckend nahe. Nach einer Knieoperation erleidet sie eine Lungenembolie. Sie ist im Koma und sechs Wochen auf der Intensivstation.
«Abramović sagt, dass sie nach dieser Erfahrung anders auf's Leben schaue. Sie wolle nur noch positive Kunst machen und dem Leben positiv begegnen», so Varadinis. In diesem Licht sieht Varadinis auch die Wellnesslinie.
Vor allem, weil Abramović die Produkte zusammen mit ihrer Ärztin, Dr. Nonna Brenner, herausbringt. Die kasachische Medizinerin gilt als Abramovićs Mentorin, seit sie diese 2017 von einer Borreliose-Krankheit heilte.
Achtsamkeit statt Auspeitschen
Zusammen bringen sie nun also ein Gesichtswasser und drei trinkbare Gesundheitstropfen auf den Markt: für mehr Energie, zur Stärkung des Immunsystems und gegen allergische Reaktionen. Die Rezepte stammen von einem tibetischen Mönch und beinhalten Zutaten wie Knoblauch, Weisswein oder Weissbrot. Hergestellt wurden die Produkte in der Schweiz.
Was sich nach viel Esoterik anhört, passe in die Richtung, die Abramović schon seit den 1990er-Jahren verfolgt, meint Varadinis: der Fokus auf innere Ruhe und Achtsamkeit. Das Spirituelle sei in Abramovićs Kunst schon länger angelegt – und habe auch viel mit ihrer Lebensgeschichte zu tun, sagt Kuratorin Mirjam Varadinis.
Abramovićs Eltern sind Kriegshelden im Jugoslawien unter Tito, sie wird von ihrer orthodoxen Grossmuster erzogen und lebte ein Jahr lang mit Aborigines in Australien. Diese Erfahrungen prägen Abramović nachhaltig.
Ein letztes, grosses Kunstprojekt?
Abramovićs Gesicht – ja, ihr ganzer Körper – waren stets Teil ihres künstlerischen Instrumentariums. Mit ihren 77 Jahren sieht sie aber nicht aus wie eine Grossmutter der Performance-Kunst. An den Gesundheitstropfen allein liegt das wohl nicht.
Ein inspirierendes Wellness-Ziel hat Abramović aber allemal: Sie will – wie ihre Grossmutter – mindestens 103 Jahre alt werden. Denn als Künstlerin werde man erst ab 100 Jahren ernst genommen.