Das Selbstporträt von Otto Dix zeigt den Avantgarde-Maler mit grimmigem Blick und langer Zigarre – ein bis dato völlig unbekanntes Werk, das nirgends verzeichnet war. Ein Bild von unschätzbarem Wert für die Forschung. Es ist nicht das einzige unbekannte Werk unter den 1400 Bildern aus dem spektakulären Münchner Kunstschatz in der Wohnung von Cornelius Gurlitt.
Muss die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts nun neu geschrieben werden? Um diese Frage zu beantworten, weiss man noch zu wenig über den Fund. Sicher ist jedoch, dass es neues Futter für die Forschung von führenden Künstlern wie Otto Dix, Henri Matisse oder Marc Chagall gibt.
Noch nicht mal einen Namen
Die Berliner Kunsthistorikerin Meike Hoffmann von der Forschungsstelle «Entartete Kunst» hat die 2012 entdeckten Werke der Sammlung Gurlitt untersucht. An der Pressekonferenz am Dienstag hat sie den Schleier ihrer Forschungsarbeit teilweise gelüftet: Entdeckt hat sie beispielsweise eine Zeichnung von Carl Spitzweg, ein Gemälde von Max Beckmann oder eine Landschaft mit Pferden von Franz Marc. Alle diese Werke waren verschollen, doch man kannte sie bereits aus Werkverzeichnissen.
Dies im Gegensatz zu anderen Gemälden, von denen man bisher rein gar nichts wusste: Etwa jenes von Henri Matisse, das in keinem Verzeichnis auftaucht und deshalb auch keinen Namen hat. Der inoffizielle Titel lautet «Sitzende Dame». Ebenfalls völlig unbekannt waren eine Gouache von Marc Chagall, ein Farbholzschitt von Ludwig Kirchner und eben das Selbstporträt von Otto Dix.
«Aus dem Off aufgetaucht»
Meike Hoffmann nannte dieses Bild am Dienstag einen «ganz besonderen Fund», da bisher vollkommen unbekannt und in tadellosem Zustand. Sie schätzte, dass es um 1919 entstanden sei, eines der ganz seltenen Werke, die gleich nach dem Ersten Weltkrieg von ihm gemalt worden seien.
Eine Expertin des Künstlers Otto Dix ist Ulrike Lorenz, die Direktorin der Kunsthalle Mannheim. Sie hat das Werkverzeichnis der Zeichnungen von Otto Dix erstellt – zum Fund sagt die Wissenschaftlerin: «Es kommt nicht alle Tage vor, dass tatsächlich Werke, die bislang nicht bekannt gewesen sind und nicht in den Werkverzeichnissen waren, quasi aus ‹dem Off› auftauchen. Das ist immer eine hochspannende Geschichte.»
Ist das Bild überhaupt echt?
Doch Ulrike Lorenz zweifelt an der Datierung des Werkes. Sie glaubt nicht, dass das Selbstporträt erst 1919 entstanden ist: «Aus meiner Sicht kann das nicht stimmen. Es liegt mir zwar lediglich eine schlechtes Foto des Bildes vor, aber ich plädiere dafür, dass wenn das Werk überhaupt aus der Hand von Dix stammt, dann nicht aus dem Jahr 1919. Es müsste aus der Zeit zwischen 1912 und 1914 stammen, auf jeden Fall aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.»
Laut Lorenz gibt es im Habitus vergleichbare, bekannte Bilder, ebenfalls verschollene Selbstporträts, die in ihrer Ähnlichkeit auf diese Datierung schliessen lassen.
Vieles ist also noch unklar: Welche Datierung stimmt? Ist das Porträt überhaupt echt, oder handelt es sich womöglich um eine Fälschung? «Das sind genau die spannenden Fragen, die die Wissenschaft bei einem solchen unglaublichen Fund umtreiben. Und die natürlich abgeklärt werden müssen», so Lorenz. Jedes neu aufgetauchte Werk stellt die Wissenschaft vor neue Fragen, und der Müncher Fund ist speziell umfangreich