Am westlichen Ende von Zürich ragt ein neuer Riese aus grauem Beton in die Höhe. Er steht nahe des Primetowers und des ehemaligen Hardturm-Stadions. Sein Innenleben ist eindrücklich: Auf knapp 100’000 Quadratmeter werden ab Herbst 5000 Studierende, Dozenten und Mitarbeiter ein- und ausgehen. Die ehemalige Toni-Fabrik vereint künftig bildende Künstlerinnen, Filmschaffende, Designerinnen, Tänzer, Musikerinnen, Schauspieler, Sozialarbeiterinnen und Psychologen aus vorher über 30 zerstreuten Instituten in einem Gebäude.
Eine ähnliche Entwicklung
In Basel kommen von der Hochschule für Gestaltung und Kunst demnächst knapp 1000 Personen zusammen, im ehemaligen Zollfreilager auf dem Dreispitz-Areal. Auch in Luzern wird in zwei Jahren ein Teil der Hochschule in den Vorort Emmen ziehen. Zusammen mit Firmen und Freischaffenden richten sie sich im Areal einer ehemaligen Textilfabrik ein.
Der Trend ist unübersehbar: Wegziehen aus dem Stadtkern an einen gemeinsamen Ort in der Peripherie. Das sorgt für Kritik. Anja Rueegsegger, die an der Hochschule in Basel Kunst studiert: «Man verdrängt uns Künstler aus dem Zentrum in einen Campus und positioniert das als Stadtentwicklung.» Thomas Müllenbach, Professor für bildende Kunst an der Hochschule Zürich, stimmt dem zu mit einem Vergleich: «Das ist, wie wenn alle Institute der Universität oder der ETH in das Zürcher Randquartier Schwamendingen zügeln würden, nur damit alle unter einem Dach sind. Kein Mensch käme auf eine solche Idee. Aber mit uns Künstlern kann man das ja machen.»
Die Kunst-Hochschule als schickes Bürogebäude
Thomas Müllenbach hat sich seit Beginn gegen das Campus-Projekt gewehrt. Er kann nicht nachvollziehen, wieso die Zürcher Hochschulen ausgerechnet ins Toni-Areal ziehen: «Der Bau ist für Kulturnutzungen völlig ungeeignet. Um genügend Licht zu haben, musste man extra fünf Lichthöfe raus schlagen.» Ausserdem gehöre der Bau der privaten Immobilienfirma Allreal. Der Kanton habe zugestimmt, ihn bloss nutzen zu dürfen. Müllenbach weiter: «Allreal hat nun aus der Toni-Fabrik ein schickes Bürogebäude gemacht, das aussieht wie ein Shoppingcenter. Künstler brauchen keinen Welcome-Desk und keine Treppenkaskade. Und sie wollen lieber ungestört als möglichst nah an einer zentralen Verwaltung sein.»
Thomas D. Meier, der Rektor der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), sieht es anders: «Unsere Hochschulen haben 2007 fusioniert. Mit dem Toni-Areal haben wir eine Gelegenheit gefunden, innerhalb der ersten zehn Jahre die Fusion auch physisch zu realisieren. Bei anderen Optionen, wie beispielsweise dem Kasernenareal, wäre dies erst viel später möglich gewesen.» Meier hält das Gebäude für geeignet: «Wir wollten kein architektonisches Monument, sondern einen Bau, der im Innern den sehr breiten Bedürfnissen gerecht wird.»
Kunst und Patina
Die schlechte Lage, die sterile Atmosphäre: Auch das neue Dreispitz-Areal in Basel wirkt für die ersten einquartierten Studentinnen und Studenten gewöhnungsbedürftig. Chus Martinez, Leiterin des Instituts Kunst in Basel, interpretiert das auch als Chance: «Räume sind immer geprägt durch die Erfahrungen der Menschen darin. Die Räume auf dem Dreispitz sind noch neutral, das sieht und riecht man sofort. Wir sind jetzt Pioniere und können die Räume neu entwickeln. Das wird eine Weile dauern, aber dafür sind wir hier.» Auch die Nachbarschaft mit bereits praktizierenden Künstlern und industriellen Betrieben könne für die heute meist crossmedial arbeitenden Künstler eine Bereicherung sein.
Grossraum-Ateliers
Nicht nur die Atmosphäre der neuen Räume gibt zu reden, auch die Raumaufteilung. Im Zürcher Toni-Areal arbeiten künftig 10 bis 20 Studierende in einem Atelier. ZHdK-Rektor Thomas D. Meier erklärt: «Verglichen mit dem Ausland ist das eine relativ gängige Situation. Zudem haben wir auch an die Zukunft zu denken. Je mehr Wände es hat, desto unflexibler wird die Nutzung. Ich bin überzeugt, dass die Hochschule in 30 bis 40 Jahren eine völlig andere sein wird. Darauf muss ein Gebäude reagieren können.» Ausserdem gelte diese Situation nicht nur für die Künstler-Ateliers, sondern für alle im Haus: «Auch ich selber arbeite neu in einem Grossraumbüro», sagt der Rektor.
Nicht alte, sondern gute Räume
Der ZHdK-Professor Thomas Müllenbach hält dem wiederum entgegen, dass dies nicht das sei, was Künstler bräuchten: «Die einen benötigen Ruhe, andere hohe Räume für Skulpturen, diese arbeiten mit lauten Geräten, bei anderen wird’s auch mal schmutzig.» Es gehe nicht um Romantik, sagt Müllenbach weiter: «Wir wollen nicht alte Räume, sondern gute Räume.»
In Basel ist die Situation wiederum ähnlich: Auch die Studentin Anja Rueegsegger erzählt, dass sie am alten Ort zu sechst in einem Atelier waren, das sie selber einrichten konnten. Auf dem Dreispitz-Areal arbeiteten sie jetzt in Grossateliers mit verschiebbaren Möbeln. Rueegsegger: «Es wurde geplant, dass die Studierenden mobiler werden. Die Frage ist, ob das wirklich unseren Bedürfnissen entspricht.»