Der Rücktritt der Findungskommission: Das Gremium, bestehend aus sechs Kunstfachleuten, sollte nach der Documenta 15 den Antisemitismus-Eklat aufarbeiten. Darüber hinaus sollte es bis Anfang 2024 einen Kurator, eine Kuratorin oder ein Kollektiv für die kommende Ausgabe im Jahr 2027 vorschlagen. Bereits Anfang November war die israelische Künstlerin Bracha Lichtenberg Ettinger zurückgetreten, es folgte der indische Kunstkritiker Ranjit Hoskoté. Dieser sah sich mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert, weil er 2019 eine Petition mit dem Titel «BDS India» unterzeichnet hatte. Die Kampagne ruft zum Boykott des Staates Israel und israelischer Produkte auf. Ende vergangener Woche traten nun die vier restlichen Mitglieder der Findungskommission zurück.
Die Gründe für den Eklat: Auslöser war einmal mehr der Konflikt im Nahen Osten. Bereits die Documenta 15 stand 2022 wegen antisemitischer Kunstwerke kurz davor, abgebrochen zu werden. Nach den Hamas-Angriffen auf Israel am 7. Oktober habe sich die Diskurslage zwischen den Lagern noch einmal zugespitzt: auf der einen Seite die pro-israelischen Stimmen, die sensibel sind für antisemitische Töne und alles, was das Existenzrecht Israels infrage stellt – auf der anderen die pro-palästinensischen Stimmen, die das Vorgehen Israels in Gaza anprangern. Als Grund für den Rücktritt nannte das Gremium «die polarisierten Debatten», durch die ihre Arbeit unter Druck geriet.
Eine entglittene Debattenkultur: «Das grundsätzliche Problem ist, dass uns die Debattenkultur völlig aus den Händen geglitten ist», sagt Nicole Deitelhoff. Die Wissenschaftlerin stand an der Spitze des Gremiums. Jedes Wort würde auf die Goldwaage gelegt und führe «in atemberaubender Geschwindigkeit dazu, dass man in eine Ecke gestellt wird». Wie Carsten Probst, Kulturkorrespondent beim Deutschlandfunk, gegenüber SRF anmerkt, richtet sich die Begründung weniger gegen die Documenta selbst, als gegen das generelle Debattenklima. In diesem scheint es der Findungskommission derzeit kaum möglich, eine neue Documenta zu planen.
Wie es weitergeht: Nach dem Rücktritt soll der Findungsprozess vollständig neu aufgesetzt werden. Traditionell findet die Documenta alle fünf Jahre statt, die nächste Ausstellung ist für 2027 geplant. Laut Geschäftsführer Andreas Hoffmann steht die Frage nach dem Zeitpunkt derzeit aber nicht im Vordergrund. «Es geht darum, die Documenta in eine gute Zukunft zu führen.» Angesichts der aktuellen Situation dürfte es ohnehin schwierig werden, neue Kandidaten für die Findungskommission zu finden. Noch schwieriger dürfte es sein, Kuratoren zu finden, die sich in diesem Klima ein solches Grossprojekt zutrauen. Laut Carsten Probst wäre es eine Option, die nächste Documenta ganz ausfallen zu lassen oder zumindest zu verschieben.
Das muss sich künftig ändern: Für Carsten Probst müssen die Documenta-Verantwortlichen die gesellschaftlichen Debatten offensiver angehen als bei der letzten Ausgabe. Vor allem, wenn sie die Debatten selbst anstossen und führen wollen. Das kann aber nur gelingen, wenn die Debatten um Erinnerungskultur, Shoah und dergleichen auch gesamtgesellschaftlich gewollt sind. Davon geht Probst derzeit aber nicht aus. Im Gegenteil: Es werde versucht, die jeweilige Gegenseite mundtot zu machen. So könne eine Debatte nicht funktionieren.