Anecken oder anregen? Schützen oder stören? Was kann Kunst im öffentlichen Raum – und was hat sie in der Natur verloren?
Weniger, dafür bessere Kunstwerke würden uns gut anstehen, sagt der Kunsthistoriker und Kurator Guido Magnaguagno. Ferngespräch mit einem Freigeist.
SRF: Den dicken Engel von Niki de Saint Phalle im Zürcher Hauptbahnhof kennt jedes Kind. Zu welcher Kunst im öffentlichen Raum blicken Sie hoch?
Guido Magnaguagno: Zu Kirchtürmen. Zu Säulen. Zu allem, was oben ist. In Venedig schaue ich zu den Löwen auf, die auf den Säulen sitzen.
Sie werden ein Lieblingskunstwerk haben, das kein Museumsdach über dem Kopf hat?
Das wäre sicher etwas, das nur temporär zu sehen ist. Aber es gibt ohnehin zu viel Kunst auf öffentlichen Plätzen. Mir ist es lieber, wenn sie dann mal wieder weg ist. (lacht)
Ich fürchte, ich muss Namen hören.
Jean Tinguely musste einmal sein Atelier zügeln, mit all den halbfertigen Kunstwerken, die da herumstanden. Er hat dann alles auf mehrere Wagen geladen und ist damit durch die Strassen von Paris gezogen.
«Le transport» (1960) war ein bisschen Demo, eine buchstäblich vorübergehende Aktion. Erfunden wurde die Strassenkunst ja von den «Nouveaux Réalistes» in den 1960er-Jahren.
Es gibt zu viel Kunst im öffentlichen Raum. Und zu wenig gute.
Kunst gehört ins Museum, mag man meinen. Wie fand die Kunst den Weg auf die Strasse, an die frische Luft, an den viel besungenen Busen der Natur?
Es ist eher umgekehrt. Die Kunst kommt ebenso von draussen. Denken Sie an die religiöse Kunst, die Prozessionen. Oder an die Pestsäulen, Heiligenfiguren und Kreuzwege, die ab dem Mittelalter in Mode waren.
Das bürgerliche 19. Jahrhundert war dann die grosse Zeit der Denkmäler. Statuen gab es aber natürlich schon vorher bei den Römern, den Griechen.
Wann hat die zweckfreie Kunst den öffentlichen Raum entdeckt?
Erst im 20. Jahrhundert. Die Dadaisten wollten raus aus den Museen, die sie langweilig fanden. Zu klein, zu eng, zu konservativ.
Dass es mittlerweile an jedem Fluss oder Seeufer einen Kunstparcours gibt, nervt mich.
Und sie wollten Kunst machen, die allen zugänglich ist.
Das ist ein grosses Verdienst der Kunst im öffentlichen Raum. Zugleich hat sie immer auch eine öffentliche Botschaft. Man kann ein Kunstwerk umstürzen, wenn es einem, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr genehm ist. Das ist ja gerade ein heisses Thema. (lacht)
Kunst im öffentlichen Raum ist angreifbar – im wahrsten Sinne des Wortes.
Genau. In den 1960er-Jahren war «Nana» wichtig, die begehbare Frau, die Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely 1966 in Stockholm ausstellten. Man ging durch die Vagina in die riesige Figur. Ein Riesenskandal. Wie Christos erste Verpackungen.
Viele Leute bequemen sich nur noch an die frische Luft, wenn sie ein wenig Kunst fotografieren können. Müssen!
Dass es mittlerweile an jedem Fluss oder Seeufer einen Kunstparcours gibt, nervt mich auch. Wobei es natürlich gute Orte gibt wie das Kloster Schönthal, zu dem viele Skulpturen im Aussenraum gehören, die zum Teil ziemlich schräg in der Landschaft stehen.
Im Kloster Schönthal vertritt man die Meinung, die Kunst schärfe die Wahrnehmung der Natur. Eine beliebte These vieler Apologeten der Kunst im öffentlichen Raum.
Sie klingen skeptisch.
Es hat hierzulande einfach zu viel Kunst im öffentlichen Raum. Vor allem zu wenig gute.
Die Natur geht kaputt, und wir gehen in die Natur und gucken uns ein bisschen Kunst an. Irgendwie ist das doch seltsam?
Ich lebe ziemlich kunstfrei im Tessin, vor allem mit dieser wunderbaren Natur. Kürzlich war ich im Lugnez. Die Kunst dieses Tals sind seine 30 Kirchen. Oder die erstaunliche Holzarchitektur der Ställe. Architektur ist ja vermutlich die Kunst im öffentlichen Raum schlechthin.
Sind Kunstwanderwege das Gym des Bildungsbürgers?
Auf die Idee der Kunstwanderwege kam man aus touristischen Gründen. So etwas wertet eine Gegend, eine Region auf. Plötzlich gab es in der halben Schweiz Kunst unter freiem Himmel – die Bex & Arts , die Biennale im Bergell , den Skulpturenpark in Gambarogno.
Es kommt aber noch etwas dazu: Viele Künstler können ihre Kunst nicht mehr über Galerien verkaufen. Deswegen wurde «Kunst am Bau» zu einer wichtigen Einnahmequelle. Das mag auch zu dieser Kunstinvasion im öffentlichen Raum geführt haben.
Was kann Draussen-Kunst, was Drinnen-Kunst nicht kann?
Nehmen wir noch einmal Niki de Saint Phalles Engel im Zürcher HB. Weil dieser Engel für viele Reisende ein Schutzengel ist, ist das für sie sinn- und für den Ort identitätsstiftend. Und wenn ein Werk lange genug irgendwo ist, definiert es einen Ort.
Genau wie ein Denkmal.
Alfred Escher ist da ein gutes Beispiel, der ja vor dem Hauptbahnhof Zürich steht. Den würde ich auf keinen Fall entfernen, sondern eine Tafel anbringen lassen, auf der steht, was er so alles gemacht hat in seinem Leben. Und woher er sein Geld hatte.
Wenn ein Werk Geschichte vermittelt, wenn es also zu einem Denkmal in einem neuen Sinne werden kann, kann ich das nur gutheissen. Aber ein bisschen Belustigungskunst am Wasser halte ich für fragwürdig.
Generalverdacht: Kunst im öffentlichen Raum muss konsensfähig sein, weil sie einer Mehrheit gefallen muss. Wie schwierig ist es, im öffentlichen Raum gute Kunst zu machen?
Wenn die Empörung gross ist, wird es interessant. Wenn öffentliche Kunst Öffentlichkeit schafft und Widerspruch provoziert, wie etwa die Stolpersteine in Berlin von Gunter Demnig. Das passiert aber leider viel zu wenig.
Um nochmals den Hauptbahnhof Zürich zu bemühen. Auf der einen Seite ist da Alfred Escher. Monumental. Nicht mehr wegzudenken.
Am anderen Ausgang Richtung Sihlpost hat der Künstler Carsten Höller ein Denkmal für Hans Künzi gestaltet.
Wer bitte ist Hans Künzi?
Das war der Regierungsrat, der die S-Bahn erfand. Aber Höllers Kunstwerk sieht man einfach nicht. Das hängt an der Decke. Man muss also hochschauen. Nur macht das niemand, weil man sich auf die Rolltreppe konzentriert.
Wo liegen die Grenzen des Möglichen von Kunst im öffentlichen Raum? Man könnte ihr unter die Nase halten: Weil sie auf Dauer angelegt ist, ist sie immer schon unzeitgemäss.
Das hat mit dem Ewigkeitsanspruch der Kunst zu tun, der im Laufe des 20. Jahrhunderts dank Leuten wie Marcel Duchamp und anderen Künstlern zum Glück verloren gegangen ist. Auch dank der Ironie und des Nihilismus der Dadaisten.
Ich hatte viel mit dem Tinguely-Brunnen in Basel zu tun. Es ist schwierig, die zeitgenössische Kunst am Laufen zu halten. Sie ist anfällig und aufwendig im Unterhalt.
Corona verändert gerade den öffentlichen Raum. Was heisst das für die Kunst?
Corona ist ein Bruch, den niemand vorausgesehen hatte. Man muss wieder ganz neu anfangen, die Geschichte neu denken und die Kunstgeschichte neu schauen. All die Orte und Plätze – wenn man an Florenz, Siena oder Venedig denkt – wird man jetzt anders wahrnehmen.
Unser heutiges Geschichtsverständnis ist zu heterogen. Es gibt nicht mehr diese Orte, in denen sich alles kristallisiert wie früher die Kirchen mit ihren Türmen. Vieles ist peripher geworden.
Ist das gut oder schlecht?
Das ist gut. Im 19. Jahrhundert standen ja ohnehin immer nur Männer auf dem Sockel. So gesehen haben wir ja ein völlig verfälschtes öffentliches Geschichtsbild.
Iwan Wirth, der Schweizer Galerist von Weltrang, bezeichnet sich ohne Koketterie als «Kunstfarmer». Wir wollen trotzdem festhalten: Die ausnehmend angesagte Nähe von Kunst und Natur ist mehr als eine Modeerscheinung?
Es gibt diesen Gegensatz zwischen Natur und Kunst. Die Natur ist gerade dabei, mit Riesenschritten Boden gutzumachen. Genau deshalb ist dieses Kunstwandern, Landschaftsarchitektur und alles, was damit zusammenhängt, wieder so «in».
Viele Museen sind identitätslos geworden.
Aber das hat eben auch mit einem gewissen Museumsfrust zu tun, an dem viele Museen allerdings selbst schuld sind.
Inwiefern?
Weil sie so identitätslos geworden sind. Weil «der Betrieb» dem Internationalismus und dem grossen Geld frönt. Das hat man irgendwann gesehen.
Wenn ich Lust auf Kunst habe, gehe ich heute lieber in alte Kirchen mit Fresken, die man nicht verkaufen kann.
Das Gespräch führte Stefan Gubser.