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100. Todestag Der überraschende Franz Kafka

Düster, verkopft, einsam, krank: So meint man, Kafka zu kennen. Er war aber auch ganz anders. Das zeigt unter anderem ein neuer Fotoband.

Franz Kafka wurde schon als kleines Kind oft fotografiert. Mit tiefernstem Blick steht der Vierjährige im Matrosenanzug unter Palmen, einen riesigen Strohhut in der einen, einen Stab in der anderen Hand. Was immer sich der Fotograf bei dieser Inszenierung gedacht haben mochte: Es sollte ein ordentliches Foto des Erstgeborenen von Julie und Hermann Kafka werden.

Ein Junge steht vor einer Palme und hält einen Strohhut sowie einen Stock. Er schaut ernst.
Legende: Er sei hier «der Affe» seiner Eltern, mokierte sich Kafka später. Gleichzeitig zeugt das aufwendig inszenierte Foto aus dem Studio davon, wie wichtig Franz Kafka seinen Eltern war. Archiv Klaus Wagenbach

Das aufwendige Studiofoto steht denn auch für den sozialen Aufstieg der Eltern aus einfachen ländlichen Verhältnissen ins Prager Bürgertum. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Das Foto zeugt von Liebe. Im Hause Kafka drehte sich alles um Franz. Schon in dessen Kindergesicht mischt sich Strenge mit leisem Schalk.

Kafka und der Humor

Auch wenn er als hoffnungslos düster gilt: Franz Kafka hatte Humor. Und er war ein Meister des selbstironischen Jammerns. «Die Welt ist nicht geheizt», schrieb er zum Beispiel in einem Brief an seine Schwester Ottla. Es ging um seine ungeliebte Brotarbeit als Jurist in der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt. Gehen oder bleiben?

Wie immer in diesem Dauerbrenner tendierte Kafka zum Verbleib: «Die Anstalt ist für mich wie ein Federbett, so schwer wie warm. Wenn ich hinauskriechen würde, käme ich sofort in die Gefahr mich zu verkühlen.»

Ich bin als grosser Lacher bekannt.
Autor: Franz Kafka Autor

Der Humor irrlichtert nicht nur durch Franz Kafkas Schreiben. Zeitgenossen berichten gerne von Kafkas lautem Gelächter. Er selbst schrieb einmal an seine Verlobte Felice Bauer: «Ich kann auch lachen, Felice, zweifle nicht daran, ich bin sogar als grosser Lacher bekannt.»

Er beschreibt Felice dann seitenlang einen peinlichen Lachanfall, der ihn anlässlich einer Beförderung packte. Kafka lachte die ganze Feier durch: «Unbesiegt, mit grossem Lachen, aber todunglücklich, stolperte ich als erster aus dem Saal.»

Peinlichkeiten um Peinlichkeiten

«Peinlich» war für Kafka damals vor allem der Versuch, sich bürgerlich zu verheiraten. Er war zweimal mit Felice Bauer verlobt. Er wollte die Ehe mit ihr und sabotierte sie gleichzeitig, weil sie nicht vereinbar mit dem Schreiben war. Auch politisch standen die Zeichen auf Sturm. Kafka nahm Ereignisse wie den Ersten Weltkrieg und später die sich anbahnende Hyperinflation nicht explizit, aber in ihren Wirkmechanismen in seine Texte auf.

Kafka musste auch lachen, wenn er seine Erzählung «In der Strafkolonie» vorlas. Der schockierende Text über eine Foltermaschine hat tatsächlich auch seine komischen Seiten. Er paart absurde Bürokratie und korruptes Rechtsverständnis mit existenziellen Fragen, die wie im Slapstick allesamt ins Leere laufen.

An seinen Verleger Kurt Wolff schrieb Kafka: «Zur Erklärung dieser letzten Erzählung füge ich nur hinzu, dass nicht nur sie peinlich, dass vielmehr unsere allgemeine und meine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist und meine besondere sogar noch länger peinlich als die allgemeine.»

Kafka als Familienmensch

Kafka liebte seine Familie, auch wenn er sich gerne über sie beklagte. In einem Tagebucheintrag schreibt er: «Ich will schreiben, mit einem ständigen Zittern auf der Stirn. Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung.» Es folgt eine urkomische Aufzählung, was Vater, Mutter, Schwestern, Hausangestellte und Kanarienvögel an Lärm produzieren.

Der Kafka-Forscher Hans-Gerd Koch räumt im neuen Fotoband «Kafkas Familie. Ein Fotoalbum» mit vielen der gängigen Kafka-Klischees auf und kann in Kombination von bislang unbekannten Fotografien und Texten Kafkas unter anderem zeigen, wie sehr Kafka am Leben seiner Familie Anteil nahm.

Familienfoto mit Kafkas Vater und dessen Enkel in der Mitte.
Legende: Hermann Kafka (Mitte) mit seinem Enkel. Im Kafka-Fotoalbum von Hans-Gerd Koch treten neue Facetten von Kafkas Vater in Erscheinung. Archiv Klaus Wagenbach

In seinem Bildband sieht man zum Beispiel, dass sich Kafka lange Zeit wie sein Vater kleidete. Nicht, dass das den anklagenden «Brief an den Vater» ungültig machte. Aber in Hans-Gerd Kochs Fotoalbum erscheint der Vater differenzierter.

Buchhinweis

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Hans-Gerd Koch (Hrsg.): «Kafkas Familie. Ein Fotoalbum». Wagenbach, 2024.

Der Vater tritt nicht als Holzklotz auf, sondern als einer, der bei der Geburt seiner Enkelinnen und des einzigen Enkels Felix ausgelassen jubelte. Er könne sich gut vorstellen, meint Koch, «dass Hermann Kafka bei Franz Kafkas Geburt genauso reagierte».

Hochzeitsfoto von Kafkas Schwester (links), Kafka rechts im Bild als junger Mann.
Legende: Kafka (rechts hinten) bei der Hochzeit seiner Schwester Valli. Obwohl er auch am sozialen Familienleben teilnahm, beschrieb er sich selbst oft als zurückgezogener, einsamer Mensch. Archiv Klaus Wagenbach

Kafka nahm teil am Leben seiner Eltern, Schwestern, Nichten, des Neffen. Er war nicht der blasse Sonderling, verbarrikadiert in einem Winkel der elterlichen Wohnung. Aber es war eines der Bilder, die er von sich zeichnete. Genauso, wie er kein gutes Haar an seinem Aussehen liess. Seinen Auftritt an der Hochzeit seiner Schwester Valli zum Beispiel kommentierte er vernichtend. Keine Spur davon auf dem Foto.

«Zwiespältiger Charakter»

Für Kafka-Forscher Hans-Gerd Koch ist Kafka «ein sehr zwiespältiger Charakter». Das beförderte widersprüchliche Selbstbilder und später, als Kafka Jahre nach seinem Tod berühmt wurde, schier unendlich viele Zuschreibungen. Mal ist Kafka politisch, mal vergeistigt, mal verklemmt, mal sinnenfreudig, mal religiös, mal agnostisch. Die Liste liesse sich beliebig verlängern.

Unbestritten ist die Kompromisslosigkeit, mit der er schrieb. Oft genug war das Schreiben eine Qual: «Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel», teilte Kafka seiner Lieblingsschwester Ottla in einem Brief mit.

Visionär nur bei Blitzlicht

Die Stereotypen über Kafka, sagt Hans-Gerd Koch, habe zuerst Max Brod befördert. Brod war der Freund, der Kafkas Manuskripte nicht verbrannte, der für den Nachruhm sorgte, dies aber auf seine Weise tat: «Er hat ihn fast zum Heiligen erhoben, zum Stifter einer neuen Religion.»

Franz Kafka auf einem Automatenfoto. Er trägt eine gestreifte Kravatte und hat einen fiebrigen Blick.
Legende: Dieses (letzte) Foto von Franz Kafka ist sehr bekannt. Er nahm das Automatenbild Anfang Oktober 1923 in Berlin im Kaufhaus Wertheim auf. Wikimedia Commons

Das letzte Foto von Kafka, ein kleines Automatenbild, aufgenommen nur Monate vor seinem Tod, scheint wie geschaffen, Brods Vorstellungen zu stützen: Kafka stark abgemagert, mit fiebrigen Augen und prophetischem Blick. Zu Lebzeiten frotzelte Kafka allerdings: «Den visionären Blick habe ich nur bei Blitzlicht.»

So viele Gespräche Kafka führte, so viele Briefe er schrieb – er hielt sich immer bedeckt. Selbst in seinen Tagebüchern machte er keine Ausnahme. Er wurde geliebt von seinen Freunden und seiner Familie, verehrt für sein messerscharfes Denken. Gleichzeitig zog er sich immer wieder zurück, in die Welt des Schreibens, die ihm wichtiger war als alles andere.

Kafka, der Tiktok-Star

Wer zu Zeiten des Eisernen Vorhangs in Prag Kafkas Grab suchte, fand niemanden, der hätte Auskunft geben können. Der Name Kafka war unbekannt. Heute überquillt die Stadt von Kafka-Souvenirs.

Verschiedene Souvenir-Magnete, in der mittleren Reihe mit Kafka-Motiven.
Legende: Ein Kafka-Kühlschrankmagnet gefällig? In Prag kann man sich den Autor an jeder zweiten Strassenecke als Souvenir kaufen. IMAGO / CTK Photo

Kafka, ein ausnehmend schönes Kind und später ein schöner Mann, wurde mit seinem gestörten Körperbild ein Tiktok-Star. Man zitiert ihn zum Beispiel mit dem Satz: «Ich fürchtete mich vor Spiegeln, weil sie mich in einer meiner Meinung nach unvermeidlichen Hässlichkeit zeigten.»

Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti schrieb einmal: «Wenn ich an den Tod denke, stört mich, dass ich mich von Kafka trennen soll.» Kafka feurig zu lieben ist heute nicht mehr exklusiv. Mittlerweile schätzt und versteht man den grossen Prager Dichter weltweit. Seine Texte sprechen für sich, weil Kafka nie Thesen formulierte, sondern strikten (inneren) Bildern folgte.

Der arme Gregor Samsa in «Die Verwandlung» zum Beispiel ist keine These und schon gar nicht grotesk. Er hatte sich so selbstverständlich in einen Käfer verwandelt, dass er zuerst meint, als Einziger den Überblick über die Situation zu haben: «Ich werde mich gleich anziehen, die Kollektion zusammenpacken und wegfahren.»

Überraschender Aufbruch

1917 erlitt Franz Kafka einen Blutsturz. Eine Tuberkulose wurde diagnostiziert. Er trennte sich endgültig von seiner Verlobten Felice Bauer. Dann liess er sich pensionieren. Im September 1923, bereits todkrank, wagte er die langersehnte Flucht aus Prag.

Nur vier Nichten überleben den Holocaust

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Franz Kafka war Teil der deutschen Minderheit in Prag und innerhalb dieser Minderheit Teil der jüdischen Minderheit. Wäre er nicht 1924 gestorben, so hätte man ihn vermutlich wie seine drei Schwestern in einem Konzentrationslager ermordet. Von der weitverzweigten Familie überlebten nur vier Nichten den Holocaust.

Mit Dora Diamant, einer jungen Frau, die er kaum kannte, übersiedelte er nach Berlin. Dort schrieb er an die ehemalige Geliebte Milena Jesenská: «Ich lebe fast auf dem Land, in einer kleinen Villa mit Garten, es scheint mir, dass ich noch niemals eine so schöne Wohnung hatte, ich werde sie gewiss auch bald verlieren, sie ist zu schön für mich.»

«Töten Sie mich»

Durch die rasch voranschreitende Inflation gerieten Franz Kafka und Dora Diamant in Berlin in finanzielle Not. Kafka war gezwungen, Bettelbriefe an Eltern und Schwestern zu schreiben. Dass er trotz dauerndem Kranksein aus finanziellen Gründen keinen Arzt aufsuchte, wurde ihm zum Verhängnis.

Am 3. Juni 1924 starb Kafka in einer Lungenheilstätte in Niederösterreich an einer nicht mehr therapierbaren Kehlkopftuberkulose. Er wurde 40 Jahre alt. Am Schluss konnte er nicht mehr sprechen. Dem jungen Arzt und Freund Robert Klopstock schrieb er auf einen Zettel: «Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder.» Es war ein letztes, typisches Kafka-Paradox, schrecklich und ergreifend zugleich.

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