Hätte James Watt nicht die Dampfmaschine erfunden, was wäre aus der Literatur geworden? Es gäbe die Poesie der Dampflok nicht, es gäbe keine Orientexpresse, weder von Greene noch Christie, keine Handlungsschienen und in der zweiten Klasse keine Steckdosen für schreibende Bahnkunden.
Tolstoi hätte seine «Kreutzersonate» nicht mit der russischsten aller Rahmenhandlungen eröffnen können; einer endlosen Bahnfahrt, bei der sich fremde Menschen näherkommen und ins Beichten geraten. Heute braucht man nicht zu beichten, wir lesen E-Books, hören Podcasts, schauen Netflix.
Die Fratze des Schweizer Mittellands
Ein Zug ist ein Wartesaal auf Rädern. «Ich bin auch ein Schreibatelier», könnte in meinem Fall auf dem Zug stehen. Was man heute «Home-Office» nennt, nannte ich 20 Jahre meines Lebens «Train-Office». Ausgesetzt dem sanften Rütteln und ausgesetzt der Fratze des Schweizer Mittellands.
«Fratze» ist nett gesagt. So wie ein Pornofilm das Leben auf Geschlechtsteile reduziert, so reduziert eine Zugfahrt durchs Mitteland die Schweiz auf jene stiefmütterlichen Bauwerke, die man nun mal an Bahngeleise heranbaut. Gewerbe, Industrie, Lagerhallen. Das ist der Schweizer Mittellandporno, man sieht die Geschlechtsteile der Schweizer Wirtschaft.
Kreativität gegen Fluchtreflex
Als Pendler gerate ich zweimal am Tag in den kritischen Zustand zwischen Reise-Inspiration und klaustrophobischer Misanthropie. Aus diesem Zustand gibt‘s nur einen Ausweg: Die Kreativität muss den Fluchtreflex besiegen.
Das zweite Kapitel meines in weiten Teilen im Zug geschriebenen Romans «Das kürzere Leben des Klaus Halm» ist die Ausgeburt eines Pendlers. Im Roman in ein Basler Tram verlegt, schildert dieses Kapitel ein Gedankenexperiment. Welcher Passagier taucht hier wohl auf, dessen Äusseres mich dazu bewegen könnte, mit diesem Individuum tauschen zu wollen?
Züge sind Paradies und Hölle
So wie Klaus Halm im Roman machte ich den Gang zwischen den Sitzreihen zum Laufsteg eines Castings. Wer interessiert mich heute so sehr, dass ich ihn oder sie in eine literarische Figur verwandeln würde? Wer darf mein literarisches Alter Ego sein, wer mein Anti-Ego? Wo springt der Funke künstlerisch verwertbarer Sympathie oder Antipathie?
Hinsichtlich dieser Frage sind Züge ein Paradies. Oder die Hölle. Nichts ist bedrohlicher, als um sieben Uhr morgens neben einem Fahrgast eingezwängt zu sein, der lautstark den eigenen Mundgeruch in ein hufeisenförmiges Nackenkissen pustet und 50 Minuten durchschnarcht.
Jeder Baum eine Ballerina
Das Notwehrprogramm jedes Pendlers ist ein Kopfhörer mit Noise-Cancelling plus Produkte der Kreativwirtschaft. Jahrelang fütterte ich mich im Wechsel mit dem Schreiben mit Filmen, katapultierte mich zwischen Schlieren und Mumpf mittels portablem DVD-Player durchs Weltkino. Und da fallen einige Analogien auf.
Das Zugfenster zum Beispiel, es ist die Leinwand. Die Landschaft, das vorbeiziehende Zelluloid. Die Dinge geraten in eine Bewegung, die sie als Standbild nicht hätten, sie drehen sich scheinbar um die eigene Achse. Jeder Baum verwandelt sich in eine Ballerina, absolviert die immerselbe Schraube. Was weit weg, zieht langsam vorbei, was nah, blitzt wie eine Sehstörung.
Filme lieben den Zug
Es ist offensichtlich, welch grosse Liebe der Film mit dem Zug verbindet. Von «L' arrivée d'un train à la Ciotat» der Gebrüder Lumière über Jean Gabin im Führerstand einer furios rasenden Dampflock in Renoirs «La bête humaine» über Bogart, der im verregneten Paris ohne seine Bergman in den Zug steigen muss («Richard, i cannot go with you!») bis zu Wong Kar-Wais magischem «2046» oder Bong Joon-hos dystopischem «Snowpiercer».
Ganz sicher ist es kein Zufall, dass Juliette Binoche den Romantitel des Films «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» ausgerechnet in einem Zugabteil ausspricht. Mir ist längst klar, dass der Zug ein Schaufenster ist, das gleichzeitig in unser Inneres und in die Weltgeschichte weist. Es gibt in Zügen zuverlässig luzide, literarische Momente, die Ursache dafür sind, dass man sofort oder viel später mit dem Scheiben beginnt.
Klänge von sterbenden Hühnern
Einen dieser literarischen Momente, ein Zug-Moment des existentiellen Staunens, finde ich schon in meiner früheren Kindheit. Ich bin vier Jahre alt und stehe im Schlafwagen Basel–Wien Westbahnhof.
Die Stunde, bevor man sich schlafen legt und die Stunde nach dem Aufwachen bis zur Ankunft sind magisch. Das Rütteln und Heulen des Zugs, Wagenkupplungen, die klingen wie sterbende Hühner, peitschende Züge in Gegenrichtung, endlose Rangierbahnhöfe.
Meine Mutter ist stets gut beschäftigt (abends: Präsentation und Verstauen von Tickets, Reisepässen, Zoll- und Frühstücksformularen, morgens: endlose Rituale weiblicher Körperpflege an einer winzigen Waschzelle), während mir nur das Fenster bleibt.
Der Zug durchschneidet die Aussenwelt
Bald nach der Abfahrt die Brauerei Feldschlösschen mit den rot leuchtenden Turmkanten, ein Mitternachtsschloss für Ausserirdische. Grüne, orange Reklameschriften, gespenstische Güterwagons.
Der Zug kann fliegen, über Autobahnen voller roter und weisser Augen, über schwarze Flüsse. Für einen Vierjährigen eine bewegte Welt, die mit endlosen Ressourcen an vorbeiziehenden Gebäuden, Masten, Strassen, Brücken und Wolken aufwartet.
Die nachtdunklen Wälder mit Fetzen eines verrückt gewordenen Mondes zwischen den Wipfeln wirken verzaubert, nahezu bedrohlich. Ingmar Bergman hat dieses kindliche Staunen über die Fremdartigkeit einer Aussenwelt, die man mit dem Zug durchschneidet, in einer perfekten Szene eingefangen.
Im Film «Das Schweigen» schaut ein kleiner Junge aus seinem Waggon. Und plötzlich werden, auf einem donnernden Zug in Gegenrichtung, hunderte Panzer vorbeigefahren. Die Parade hört nicht mehr auf.
Zwar gibt’s Militärfahrzeuge auch in der Schweiz genug zu sehen, auch in Friedenszeiten (fast absichtlich auf die SBB-Bühne gestellt zum Beispiel das Dauerdefilee des Armeelogistikcenters Othmarsingen). Bei Bergman jedoch beobachtet das Kind reale Kriegsvorbereitungen.
Ein visueller Höhepunkt des Films, ein aktuell bleibendes Alptraumbild. Aus der Kinderperspektive unwirklich und fast auch poetisch, wäre die Sequenz von Bergman nicht so gnadenlos geschnitten wie ein Blitzkrieg.
Wir rasen durch die Zeit
Züge literarisieren unser Leben, auch darum ist dieses Verkehrsmittel perfekt als Schreibort. Schreibblockaden sind auf der Fahrt unmöglich, man steckt nie fest. Der Zug rollt und macht darauf aufmerksam, dass die Zeit rinnt. Der fahrende Zug beweist unaufhörlich, dass das Fliessen unseres Daseins alternativlos ist.
Im Zug rasen wir durch die Zeit, jede Sekunde bringt uns der grossen Metapher einer letzten Ankunft näher. Vielleicht schneller als man denkt.
Im berüchtigten Tunnel vor Olten? In ihm kam es in meiner Pendlerzeit auffällig oft zu massiven Bremsmanövern und sekundenlangen Aufenthalten, bei denen es nach verbranntem Gummi roch. Eine Folge des heftigen Bremsmanövers.
Kurz darauf peitschte jeweils ein Zug aus der Gegenrichtung die Luft gegen unsere Fenster. Ich erinnere mich an folgende Durchsage: «Liebe Fahrgäste, leider wurde ein automatisches Bremsmanöver eingeleitet, bitte entschuldigen sie die Unannehmlichkeit.» Ich frage mich, ob‘s nicht «zum Glück» heissen müsste. «Liebe Fahrgäste, zum Glück wurde ein automatisches Bremsmanöver eingeleitet.»
Dürrenmatts berühmter Tunnel will nicht enden, der Tunnel zwischen Tecknau und Olten qualmt und lärmt und hebt die Pendler aus den Sitzen. Da kommt ein Autor schon auf makabre Ideen.
Liebe durch das Zugfenster
Wie wär’s mit einer Liebe auf den ersten Blick. Durch die Zugfenster zweier parallel in den Bahnhof einfahrender Züge erblicken sich zwei Menschen. Die Züge kommen sich näher und näher, bis zum Rangiercrash. Die erröteten Gesichter krachen Sekunden nach dem Liebesfunken mundgenau aufeinander. «Todeskuss in der Bahnhofseinfahrt.»
Okay, es geht auch lyrischer. Wenn der Akku leer ist und die Steckdose tot, hat ein Berufspendler Zeit, die Fensterscheiben zu studieren.
Tropfen fliessen …
Er sieht die Regentropfen übers Glas rasen wie Kometen, Schweif inklusive. Die Tropfen schlagen mit durchsichtigen Köpfen auf die Gummiabdichtung. Verletzt von Aufprall und Fahrtwind, vereinigen sie sich mit Trümmerteilen anderer Tropfen, fliessen erneut oder trocknen weg, verschwinden wie das alte Babylonien.
Obwohl übers Glas ununterbrochen neue Kometen rasen, bleibt die Fensterscheibe bedeckt von einem Sternenhimmel unantastbarer Tröpfchen. Sie sind der Grund, warum die Scheibe an Sonnentagen aussieht wie gesprenkelt mit unlesbaren Schriftzeichen aus Pollen und Staub.
Guckt man genauer hin, steht da in zigtausendfacher Ausführung «Richard, i cannot go with you».
… und Käfer kriechen
Ja, und während Pendler mit derlei Beobachtungen beschäftigt sind, können sie aus dem Abteil hinter ihnen kostenlos dem Lebensbericht einer Frau lauschen, die ihrer Freundin erzählt, es sei ihr als Kind ein Käferchen rund um den Augapfel gekrochen.
Ich habe das Bild nie aus dem Kopf bekommen. Die Wörter dieser Erzählerin sind Käfer geworden, eingedrungen durch mein Ohr, kriechen sie seither endlos um meine Augäpfel.
Protokoll einer Landschaft
Höchste Zeit, aus dem Zug abzuhauen. Wim Wenders zeigt wie. Am Ende von «Alice in den Städten» sehen wir seine beiden Protagonisten in einem fahrenden Zug. Beide schauen aus dem offenen Fenster.
Dann löst sich die Kamera. Der Zug wird klein und kleiner, die Landschaft weit und die Filmfiguren verschwinden in den Tiefen unserer wirklichen Welt. Die Fiktion endet in einer Dokumentation deutscher Landschaft 1974.
So ist das mit uns Pendlerinnen und Pendlern. Wir dokumentieren mit unseren Blicken unsere Zeitgenossen, protokollieren kleinste Veränderungen der Schweizer Landschaft, jede neu hinzugekommene Schallschutzwand fällt uns auf, jede neu errichtete Salzsalinenlagerhalle.
Letztlich aber verschwinden wir selbst unter der Veränderungsgewalt der Welt. Was heute Morgen noch gilt, ist morgen jenseits des dritten Tunnels.