«Le Colibri» ist schon durch verschiedene Medien gereist: Ursprünglich war die Graphic Novel ein Theaterstück, das Élisa Shua Dusapin im Auftrag des Genfer Kinder- und Jugendtheaters «Am Stram Gram» schrieb.
Auf der Basis dieses Theaterstücks zeichnete die Walliser Illustratorin Hélène Becquelin die nun preisgekrönte Graphic Novel – und diese wiederum wurde für das Internet als Hörtext mit Musik umgesetzt.
Verlust, Trauer und Neuanfang
Diese Transmedialität fällt auf und entspricht dem heutigen Zeitgeist. Vor allem aber ist «Le Colibri» ein künstlerisches, berührendes und zartes Werk.
Es erzählt vom 14-jährigen Célestin. Mit seinen Eltern zieht er von der Küste in eine Stadt, in der er die gleichaltrige Lotte kennenlernt. Am neuen Wohnort findet ihn auch sein Bruder, der an Anorexie litt und ihn aus dem Himmel besucht. Er bringt Célestin einen Kolibri.
Der Kolibri befindet sich in einer Art Winterstarre. Gemeinsam kümmern sich Célestin und Lotte um ihn. Dabei verlieben sie sich ineinander. Aber ihre Liebe kann sich (noch) nicht entfalten, weil sich auch Célestin wegen seines Bruders in einer Art Starre befindet.
Auch durch die Begegnung mit Lotte findet Célestin schliesslich einen Weg aus seiner Trauer und kann sich wieder dem Leben zuwenden. Er bittet seinen Bruder, ihn in Ruhe zu lassen. Damit ist der Weg frei für die Liebe.
Happy End ohne Kitsch
Das Ende der Geschichte ist hoffnungsvoll, aber nicht kitschig, weil vieles offen bleibt und nicht einfach gelöst ist. Dieser sanfte, aber eindringliche Umgang mit den angesprochenen Themen hat die Jury überzeugt.
Unter anderem geht es um grundsätzliche Fragen, die nicht nur Jugendliche betreffen: Umgang mit Liebe, Einsamkeit, Geborgenheit, Tod. Ausserdem nimmt die Geschichte ein Thema auf, das gesellschaftlich immer mehr in den Vordergrund tritt: psychische Gesundheit.
Laut Jurypräsident Stefan Schröter geben Élisa Shua Duspain und Hélène Becquelin all diesen Themen einen ästhetischen Rahmen und inhaltliche Tiefe: «Bilder und Sprache stehen in einem Dialog – die Sprache ergänzt das Bild nicht einfach.
Es gibt Passagen, in denen das Bild vor allem erzählt, es gibt Passagen, wo sich Bild und Text fast widersprechen, und es gibt Passagen, in denen erst Bild und Text zusammen etwas Ganzes ergeben. Das ist einer der Hauptgründe für die besondere Qualität.»
Das Leben in all seinen Grautönen
Gerade diese Zwischentöne, differenziert und facettenreich, machten «Le Colibri» zu einem herausragenden Werk. «Vieles ist angesprochen», sagt Stefan Schröter, « aber nicht alles gesagt».
Dazu gehört auch, wie lllustratorin Hélène Becquelin Farbe als Erzählelement einsetzt und damit zeigt, wie Célestins Leben wieder lebendig wird. Diese zarten Akzente und die schlichten Illustrationen zeichnen «Le Colibri» genauso aus wie die spannende Handlung und die differenzierte Figurenzeichnung.
Aber nicht nur: die Geschichte bietet Raum für eigene Gedanken und Gefühle. Sie lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen lesen. Und hat Leerstellen, die die Leserschaft füllen kann. All das macht gute Literatur aus – ob als Theaterstück, Hörtext oder Graphic Novel.