75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, dem sicher fürchterlichsten Krieg der neueren Zeit, hören wir tagtäglich die pathetische Formel: Wir befinden uns im Krieg. Immer noch.
Doch was bedeutet Krieg heute? Der Krieg gegen den Terror, der Krieg im Internet und nun: Der Krieg gegen das unsichtbare Virus.
Gezeichnete Gesellschaften
Das 57-köpfige Team von Autorinnen und Autoren des Sammelbandes «Eine Geschichte des Krieges. Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.» betrachtet den Krieg als ein multiperspektivisches und globales Phänomen. Insbesondere bei den Körper-, Gewalterfahrungen, denen Soldaten und Zivilisten überall auf der Welt gleichermassen ausgesetzt sind.
Der französische Historiker Stéphane Audoin-Rouzeau etwa schreibt in seinem Aufsatz «Die grausame Entfesselung von Gewalt in den Kriegen der Moderne», von Exzessen des Zweiten Weltkrieges, im Vietnamkrieg und von den Genoziden des jugoslawischen Bürgerkrieges der 1990er-Jahre. Ist nach diesen Kriegen überhaupt noch an Normalität zu denken?
Grausame Rituale
Der Krieg hat zu viel zerstört, zu viel verändert und zu stark auf die Individuen und die Gesellschaft eingewirkt, um an die angeblich guten alten Zeiten wieder anzuknüpfen. Manches Kriegsritual, insbesondere im Pazifikkrieg zwischen den USA und Japan, führte zu «grausigen Verwerfungen bis hinein in das Zivilleben», schreibt Audoin-Rouzeau.
«Ein berühmtes Foto, am 22. Mai 1944 im «Life Magazine» erschienen, zeigt die 20 Jahre alte Amerikanerin Natalie Nickerson melancholisch auf den Schädel eines japanischen Soldaten blickend, den ihr der in der Navy dienender Verlobter geschickt hat.»
Frauen im Krieg
Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg wurden die Grenzlinien zwischen ziviler und militärischer Welt porös. Frauen waren als Trägerinnen der Kriegswirtschaft, aber auch als Opfer von Krieg und Völkermord genauso im Brennpunkt wie Männer.
Die Historikerin Marie Louise Roberts untersucht das Phänomen weiblicher Soldaten, die im Schatten der von Männern geführten Kriege als Kuriosum galten. Allein im Zweiten Weltkrieg dienten 800'000 Soldatinnen in den sowjetischen Streitkräften.
«Wie lässt sich dieses lang anhaltende Schweigen erklären? Frauen, die zu den Waffen griffen, um ihr Land zu verteidigen, verstiessen gegen die geschlechtsspezifischen Regeln des Krieges. Ihre Verbannung aus der Geschichte kaschierte diesen Verstoss.»
Fokus auf das menschliche Drama
Weitere Artikel des Buches widmen sich den Kindersoldaten, Veteranen und den gewaltigen Folgen zahlreicher Kriegstraumata. Allein 12 Prozent der Veteranen aus dem Irak-Krieg, so eine Statistik, leiden an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die sich in Suiziden und einer erhöhten Gewaltbereitschaft niederschlagen.
Krieg, auch wenn er nun immer mehr automatisiert werden soll, bleibt somit eine offene Wunde mit dramatischen Folgen für alle Gesellschaften.