Wladimir Putin liebt die Pose – als Schwimmer, hoch zu Ross, als Fischer, als Jäger. Vorzugsweise mit nacktem Oberkörper. Doch damit begibt sich der Präsident im heutigen Russland möglicherweise auf sittliches Glatteis.
Denn nicht nur Damen, auch Homosexuelle könnte das – immerhin halbwegs – trainierte präsidiale Fleisch entzücken. Und Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle gelten in der russischen Propaganda als «Extremisten».
Wie weit der Schwulenhass mittlerweile gediehen ist, zeigt der Wirbel, den die Ukrainerin Katerina Silwanowa und ihre russische Co-Autorin Elena Malisowa mit ihrem Liebesroman «Du und ich und der Sommer» in Russland ausgelöst haben. Ihr Fall wäre zum Brüllen, wäre er nicht bitterer Ernst.
Sogar «Penis» wird erwähnt
Der Roman, der nun in deutscher Übersetzung vorliegt, erzählt die Geschichte des 16-jährigen Jura und des 19-jährigen Wolodja. Die zwei nehmen in den 1980er-Jahren, also noch zur Sowjetzeit, an einem staatlichen Ferienlager für junge Pioniere teil. Und sie verlieben sich ineinander.
Die beiden Jünglinge gestehen sich ihre Gefühle lange nicht ein. Doch dann küssen sie sich. Streicheln sich den Bauch. Und dann – oh Gott – fühlen sie bei Umarmungen durch die Hosen gar den steifen Penis des anderen.
Doch dann bricht der Ältere die Liebelei ab. Er will im Sowjetstaat Karriere machen. Als Schwuler geht das nicht. Die beiden verlieren sich. Erst Jahrzehnte später treffen sie sich wieder – zum Happyend.
Nichts Pornografisches, viel Historisches
«Du und ich und der Sommer» ist ein süffiger und gut gemachter Unterhaltungsroman – wenn auch zu sentimental erzählt und immer wieder jenseits der Kitschgrenze. Darstellungen, die auch nur im Entferntesten als pornografisch gedeutet werden könnten, finden sich keine. Das Buch ist durch und durch harmlos – inhaltlich und literarisch.
Historisch Interessierte erhalten durch die Lektüre immerhin einige Einblicke in das Funktionieren sowjetischer Ferienlager: Appelle, Gleichmacherei, Geländesport, politisiertes Theaterspiel.
Ein Schandwerk: Trotz seines Erfolgs
Als die russische Originalausgabe des Romans 2021 in Moskau erschien, wurde er zum Bestseller: Hunderttausende verkaufte Exemplare. Fangruppen in den sozialen Netzwerken. Bei den staatlichen Sittenwächtern schoss der Blutdruck nach oben: In der Lesart des Regimes verharmlost die Liebesgeschichte die Homosexualität. Das darf nicht sein!
Ab Mai 2022 nahmen die Propagandamedien die beiden Autorinnen ins Visier, verunglimpften sie als «ausländische Agentinnen». Die beiden flüchteten, um Leib und Leben fürchtend, ins Ausland.
Zur gleichen Zeit verschärfte das Regime die Gesetze gegen die sogenannte «LGBTQ-Propaganda». Es stufte die Schwulen-Romanze im Pionierlager als ein eben solches Schandwerk ein und verbot es.
Angst vor «Verschwulung»
Zwar ist es im heutigen Russland nicht strafbar, schwul oder lesbisch zu sein. Doch wer es – wie die beiden Autorinnen Katerina Silwanowa und Elena Malisowa – wagt, eine nicht heterosexuelle Orientierung als positiv darzustellen, treibt es in Putins Reich zu weit.
Jetzt, da das Buch übersetzt ist, kann sich das deutschsprachige Publikum selbst ein Bild machen: von der Harmlosigkeit des Romans – und vor allem vom grotesken Ausmass der Homophobie in Russland.