Frauen werden gerne mal unterschätzt, im Guten wie im Schlechten: «Ich wollte zeigen, dass Frauen genauso machtgeil sein können wie Männer. Sie sind nicht automatisch die moralisch Überlegenen», sagt Isabelle Lehn.
Um das zu zeigen, hat sich die deutsche Autorin ins «True Crime»-Genre vorgewagt. In ihrem neuen Roman rollt sie also einen wahren Kriminalfall auf. Sie beschreibt das Leben einer Finanzverbrecherin. Einer Frau, der niemand Straftaten in derart grossem Stil zugetraut hat, denn immerzu wurde sie: unterschätzt.
Von der Bank zur Mafia
«Die Spielerin» ist Isabelle Lehns dritter Roman. Er handelt von einer, wie es im Buch heisst, «unscheinbaren Frau mittleren Alters». Sie wird lediglich als A. bezeichnet. A. stammt aus der westdeutschen Provinz. Nach der Schule absolviert sie eine Ausbildung bei der Sparkasse. Aus Angst, dort zu versauern, nimmt sie in den 1990er-Jahren eine Stelle als Investment-Bankerin in Zürich an.
Dort lernt sie das «Handwerk» für ihre spätere Tätigkeit. Sie lernt, nicht so genau hinzuschauen, für wen sie ein Konto eröffnet. Sie lernt, nicht nachzufragen, woher ein Vermögen stammt. Kurz: Sie lernt es, Geld zu waschen.
Als A.s Karriere als Bankerin ins Stocken gerät, wechselt sie vollständig ins kriminelle Milieu: Sie wird Buchhalterin der kalabrischen Mafia ’Ndrangheta. Als solche zieht es sie nach Russland, nach Südostasien, später nach Berlin. Mit ihrer Geldwäsche verdient A. Millionen.
Nach einem wahren Fall
Die Geschichte beruht auf den Machenschaften einer gewissen Martina N.: 2009 wurde die Betrügerin in einer Luxussuite in Florenz festgenommen. Von diesem Fall erfahren hat Isabelle Lehn auf der Website des Mafia-Experten Sandro Mattioli. Die Figur, sagt Lehn, habe sie sofort gereizt. Aus Martina N. hat sie für ihren Roman A. gemacht.
Erzählt wird die Geschichte aus den Blickwinkeln verschiedener Weggefährtinnen und -gefährten von A.: Und genau das macht den Roman so raffiniert. Für jede dieser Figuren findet Lehn eine eigene Stimme. Sie entwirft nachvollziehbare Charaktere. Ihnen gemeinsam ist, dass sie auf A. hereingefallen sind.
Ihre vermeintliche Durchschnittlichkeit hat A. zu einer Projektionsfläche gemacht. Jeder hat in ihr nur das gesehen, was er sehen wollte. Getäuscht hat A. am Ende alle: ihren Vater, der seiner scheinbar hilflosen Tochter beim Umzug nach Zürich die Gardinenstangen montiert, genauso wie den arroganten Wirtschaftsberater Joachim Oldenbrink, der nicht ahnt, dass A. das schicke Berliner Mietshaus gehört, in dessen Dachgeschosswohnung er lebt.
Höhepunkt im Herbstprogramm
«Die Spielerin» ist ein fabelhafter Roman, ein Höhepunkt im aktuellen Herbstprogramm – inhaltlich wie formal. Sein Titel ist übrigens eine Anspielung auf Fjodor Dostojewskis Erzählung «Der Spieler». Darin geht es um einen Mann, der vom Glücksspiel nicht loskommt.
Lehns Roman nimmt nun die Sucht auf, das Rauschhafte. Die Jagd nach mehr und noch mehr Geld. «Es hat mich gewundert, dass der Romantitel ‹Die Spielerin› noch frei war», so Lehn. «Offenbar hat man Gier bislang nicht mit Frauen in Verbindung gebracht.» Womit wir wieder beim Unterschätzen wären.