Als er mit 15 Jahren im Strandurlaub den schönen, unnahbaren Filip zum ersten Mal sieht, ist es um den namenlosen Ich-Erzähler in Florian Gottschicks Roman geschehen. Den Rest des Urlaubs verbringt er damit, sich immer wieder neue Gründe zurechtzulegen, um mit Filip Zeit verbringen zu können. Nach und nach dämmert ihm: Er ist homosexuell.
Mehr als ein Coming-out-Roman
Auf den ersten Blick klingt dieser Roman nach einer durchschnittlichen Coming-out-Geschichte: seit dem erfolgreich verfilmten Roman «Brokeback Mountain» (Annie Proulx) oder spätestens seit «Call Me By Your Name» (André Aciman) ein bekanntes Genre mit unzähligen ähnlichen Geschichten. Florian Gottschicks Roman geht aber einen Schritt weiter. Die folgenschwere Begegnung im Urlaub ist zwar Ursache und Zentrum der Erzählung, aber darum herum verhandelt «Damals im Sommer» noch viel mehr.
Das sind nie queere Geschichten an sich, sondern ich nehme die Queerness als normale Gegebenheit an.
Da wäre zum Beispiel die Beziehung des Ich-Erzählers zu seinem Bruder Fer. Fer ist zwei Jahre älter und ihm in allem überlegen. Er ist grösser, stärker, cleverer und sexuell erfahrener. Für den Protagonisten ist Fer das Vorbild schlechthin – so sehr, dass er fast zu vergessen scheint, dass er auch ein eigenes, unabhängiges Leben führen könnte.
Erst die Erkenntnis, dass er schwul ist, lässt Zweifel aufkommen und den Protagonisten auch fast verzweifeln: Wenn die Massstäbe, an denen er sich bis jetzt gemessen hat, für ihn gar nicht die richtigen sind, wer ist er denn dann? Und wie kann er damit einen Umgang finden, wie seine bürgerlich-verstockte Familie einweihen?
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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Gegen das Unwort «Heteronormativität»
Florian Gottschicks Roman erzählt von dieser jugendlichen Identitätskrise aus grosser zeitlicher Distanz. Der Protagonist ist heute um die 40 Jahre alt und erinnert sich, was «damals im Sommer» alles geschehen ist. Das erlaubt dem Autor einerseits geschickte Plot-Twists, weil er seinen Erzähler manchen Schleier erst sehr spät lüften lässt. Andererseits lässt er eine nachträgliche Reflexion über das Erlebte zu – romantische Verklärung inklusive.
Für ihn sei es in all seinen Werken wichtig, von einer «neuen Normalität» zu erzählen, sagt Florian Gottschick, der auch als Drehbuchautor und Filmregisseur arbeitet: «Das sind nie queere Geschichten an sich, sondern ich nehme die Queerness als normale Gegebenheit an, in der ich dann andere Plots erzähle.»
Er breche absichtlich mit der typischen Leseerwartung, dass Beziehungen in Romanen meistens heterosexuell sind, sagt Gottschick. Für ihn ist die sogenannte Heteronormativität ein «Unwort»: «Mir stellt sich ja auch niemand vor mit ‹Hallo, ich bin Klaus, ich bin hetero›. Es soll zu einem ganz normalen Sprachgebrauch werden, dass ich als Mann sagen kann ‹Mein Mann und ich› und nicht komisch angeschaut werde.» Auf diesen Zustand arbeite er hin.
Eine Geschichte über das Aufbegehren
Darum wird man seinem aktuellen Buch nicht gerecht, wenn man ihm einfach das Etikett «queere Sommerromanze» anheftet. «Damals im Sommer» lässt sich ohne weiteres als Pubertätsroman lesen: als Geschichte über das Aufbegehren gegen die fremden Massstäbe, die von rundherum an einen herangetragen werden, als Geschichte zweier rivalisierender Brüder und als Geschichte einer Familie, die auseinanderbricht.
Dass der Protagonist dieses Romans homosexuell ist, wird beim Lesen zunehmend zu einem selbstverständlichen Teil des Settings. Denn die Geschichte, die er erzählt, ist universell.