In Frankreich gibt es die Buchreihe «Ma nuit au musée», «Meine Nacht im Museum». Als die Autorin Lola Lafon gebeten wurde, einen Text zur Reihe beizusteuern, wusste sie auf Anhieb, in welchem Museum sie eine Nacht verbringen wollte. Nicht in irgendeiner Kunstsammlung, wie die meisten anderen. Sie wollte ins Anne-Frank-Haus. In das Versteck in Amsterdam, in dem die Familie Frank und vier ihrer Bekannten Schutz vor den Nazis gesucht hatten. Im Buch spürt sie der ermordeten Familie nach. Obwohl für sie ein Feldbett aufgestellt worden war, fand Lafon keinen Schlaf. Ein Gespräch über das Echo der Vergangenheit – und darüber, was sie an Anne Frank bewundert.
SRF: Madame Lafon, wenn Sie an Ihre Nacht im Anne-Frank-Haus zurückdenken – was empfinden Sie da?
Lola Lafon: Eine Mischung aus Schmerz und Zärtlichkeit gegenüber Anne Frank. Ich verspüre den irrationalen Wunsch, dieses Mädchen zu beschützen. Erstaunlicherweise sind meine Erinnerungen an diese Nacht inzwischen glasklar, obwohl in meinem Kopf, als ich das Gebäude am Morgen verliess, alles vernebelt war.
Warum haben Sie diesen Ort gewählt?
Irgendwie kam für mich nichts anderes infrage. Der Grossteil meiner Familie ist im Holocaust umgekommen. Wahrscheinlich war es für mich an der Zeit, mich mit dieser Vergangenheit zu beschäftigen. Bis dahin hatte ich mein ganzes Leben lang versucht, meine jüdische Herkunft zu verschleiern. Niemandem hatte ich davon erzählt. Letztlich war dieses Buch für mich auch eine Art «Coming-out».
Sie sind während dieser Nacht im Hinterhaus von Raum zu Raum gegangen. Immer wieder standen sie an der Schwelle zu Anne Franks Zimmer, aber Sie hatten Hemmungen hineinzugehen. Warum?
Bis dahin war Anne Frank für mich ein Mythos gewesen, eine öffentliche Figur. Aber im Laufe meiner Recherchen ist sie zum Menschen geworden.
Habe ich das Recht, das Zimmer eines Teenagers zu betreten?
Mein Zögern an dieser Türschwelle hat mich selbst überrascht; ich glaube nicht an Geister oder so. Aber plötzlich fragte ich mich: Habe ich überhaupt das Recht, das Zimmer eines Teenagers zu betreten? Steht mir das zu?
Sie haben sich im Vorfeld intensiv mit Anne Frank beschäftigt. Was hat Sie am meisten überrascht?
Ihr schriftstellerisches Können. Wir betrachten ihr Tagebuch immer als spontan dahingeschriebene Gedanken eines Teenagers. Aber das wird ihr nicht gerecht: Anne Frank hat redigiert, sie hat Passagen gestrichen, neu angeordnet, am Stil gefeilt. Auch die Anrede an die imaginäre Freundin «Kitty» hat sie erst später als dramaturgisches Element eingefügt.
Das Drama ist, dass wir von dieser talentierten Autorin nichts anderes mehr lesen können.
Sie hat dieses Memoire nicht für sich selbst geschrieben, sondern für die Öffentlichkeit. Und das Drama ist, dass wir von dieser talentierten Autorin nichts anderes mehr werden lesen können, weil sie ermordet wurde.
Anne Frank musste das Zimmer mit einem Bekannten ihrer Eltern teilen. Immerzu gab es Streit um die Nutzung des Schreibtischs ...
Ja, sie musste sich gegen einen Erwachsenen durchsetzen, der nicht einsah, warum die Arbeit dieses Mädchens wichtig sein sollte. Jeden Tag ein Kampf ums Schreiben-Können.
Was, glauben Sie, macht die Faszination an Anne Frank aus?
Es gibt viele Aspekte. Aber einer könnte sein, dass das Tagebuch mit der Deportation abbricht. Wir können sie also als süssen Teenager erinnern. Und das Bild von ihr als abgemagerten, kahlgeschorenen KZ-Häftling – das blenden wir aus.
Das Gespräch führte Katja Schönherr.