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80 Jahre Auschwitz-Befreiung Holocaust-Gedenken im Klassenzimmer: Jugendliche erzählen

Wie erinnern sich Schülerinnen und Schüler an Auschwitz, 80 Jahre nach der Befreiung? Apps etwa können bei der Vermittlung helfen – aber auch frustrieren. Ein Austausch über den Unterricht zum Holocaust.

Der 27. Januar 1945 ist der Tag der Befreiung von Auschwitz. 80 Jahre später treffe ich Jugendliche, alle um die 17 Jahre alt, und will wissen: Wie lernen sie heute über den Holocaust, und wie funktioniert Erinnerungskultur, wenn es nur noch wenige lebende Zeitzeugen gibt, die in den Schulen von der Nazi-Zeit berichten können?

Stellvertretend für eine neue Generation der Erinnerungskultur besuche ich eine kleine gemischte Gruppe, 10. Klasse, aus der Atelierschule in Zürich. Und bedanke mich, dass sie mitmachen, schliesslich ist Sonntag. Sie sind extra für unseren Austausch am eigentlich freien Tag hergekommen.

Zwei Personen schauen gemeinsam auf einen Laptop-Bildschirm.
Legende: Schülerinnen einer 10. Klasse bedienen eine App, in der sie mittels Spracherkennung und vorgefilmten Antworten mit einem Holocaust-Überlebenden interagieren können. Neben neuen Medien finden auch Literatur und Film Verwendung im Unterricht. SRF/Franz Kasperski

«Auschwitz ist ein wichtiges Thema», sagt Leonie, «ist klar.» Ihrer und alle anderen Namen der Schülerinnen und Schüler wurden von der Redaktion geändert. Später treffe ich eine ganze Klasse aus dem Gymnasium Freudenberg, ebenfalls in Zürich. Im Unterricht haben beide Gruppen durch diverse «klassische Medien» von Auschwitz erfahren. Manche haben «Als Hitler das rosa Kaninchen stahl» und «Der Junge im gestreiften Pyjama» erst gelesen, dann die Verfilmungen geschaut: «Das ist nahe gegangen», sagt Carla.

Auschwitz im Film: Schwer auszuhalten

In einer anderen Klasse, erzählen sie, hätten sie im Deutschunterricht Cordelia Edvardsons «Gebranntes Kind sucht das Feuer» gelesen: Eine Mutter schützt sich selbst vor der Deportation, gibt ihre Tochter aber preis. Die wird nach Auschwitz deportiert. Das sei vielen lange nachgegangen. Schwer auszuhalten sei auch der Film «Bei Nacht und Nebel» von 1955 gewesen, der in Auschwitz-Birkenau und Majdanek gedreht und mit Archivaufnahmen kombiniert wurde.

Der Lehrer habe es ihnen freigestellt, ob sie ihn anschauen wollen. Sie hätten gewollt. Einige hätten geweint. Zu zweit, zu mehreren hätten sie erst untereinander geredet, dann mit dem Lehrer in der ganzen Klasse.

Holocaust-Schulstoff damals und heute

Nicht nur die Schule trägt zum Erinnern bei. Finn war einmal mit seiner Familie in München, in der Nähe hätten sie das KZ Dachau besucht. Er sei durch die Gedenkstätte gegangen, eine Baracke sei noch dagewesen, der Stacheldraht, Geschichten, Fotos, Namen, Schicksale. Geschichtsbücher seien das eine, «solche Besuche sind etwas anderes».

Gruppe von Menschen vor Ziegelgebäude im Freien.
Legende: Rundgänge zu den Orten des Horrors: KZ-Gedenkstätten wie hier im deutschen Dachau leisten wertvolle Aufklärungs- und Vermittlungsarbeit. KEYSTONE/Laurent Gillieron

Nicht nur bei Finn, auch bei den anderen hätten Eltern oder Grosseltern von ihren Erinnerungen an Auschwitz erzählt. Davon, dass sie «Das Tagebuch der Anne Frank» gelesen hätten oder Paul Celans «Todesfuge».

Die war «Schulstoff, als mein Vater so alt war wie ich jetzt», sagt Teenager Luis. Sein Vater hätte in den 1970er-Jahren auch die amerikanische Serie «Holocaust» gesehen.

In der Familie einer Schülerin sind Vorfahren in Auschwitz ermordet worden. «Natürlich sprechen wir in der Familie darüber.» Als sie das sagt, ist die Klasse einen Moment lang so gelähmt wie still. Geschichte ist hier Familiengeschichte, die Toten sind Verwandte, sie leben in der Erinnerung fort. Nicht nur die Schule, das gesamte Umfeld, Freunde, Familie tragen dazu bei, wie man sich erinnert oder eben nicht erinnert.

Erinnerungskultur zwischen Verdrängen und Hinschauen

Je nach Mensch, persönlicher Geschichte und Umfeld ist das Erinnern sehr unterschiedlich und «nichts Statisches. Jede Generation hat ihre Art, sich zu erinnern», sagt Jakob Tanner, emeritierter Professor für Geschichte. «Das hat mit gesellschaftlichen Strömungen zwischen Erinnern und Verdrängen zu tun.» Tanner macht diese zwei Pole an der deutschen Serie «Heimat» von 1984 fest und an «Shoah» aus dem Jahr 1985 von Claude Lanzmann.

«Heimat» sei laut Jakob Tanner ein Beispiel für das Verdrängen, «Shoah» ein Beispiel für unerbittliches Hinschauen, eine Zeugenschaft. Erinnern sei immer in Bewegung, sagt Tanner, und konfliktgeladen: «Es gibt keinen nationalen Container mit einer homogenen Erinnerungskultur». Es sei immer Auseinandersetzung.

Historiker Jakob Tanner über Erinnerungskultur

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Mann spricht in Büro vor Bücherregal.
Legende: SRF/swissinfo.ch

SRF: Was ist für Sie Erinnerungskultur?

Jakob Tanner: Erinnerungskultur ist eine multimediale Praxis, über die eine Gesellschaft sich ihre Vergangenheit vergegenwärtigt, um sich in der Gegenwart zu orientieren und Perspektiven für die Zukunft freizulegen. Erinnerungskultur bewegt sich zwischen Erinnern und Vergessen.

Und je nach Wissensstand ist sie unterschiedlich?

Sie ist immer im Wandel, muss immer wieder erarbeitet werden. Sie ist konfliktiv, heterogen, polyphon. Es gibt keinen nationalen Container mit einer homogenen Erinnerungskultur.

Die letzten Überlebenden von Auschwitz werden sterben. Wo stehen wir heute im digitalen Zeitalter?

Heute gibt es viele sehr gute Bücher mit Forschungsergebnissen, Facts, Zeugnissen. Viele Institutionen bieten Information an. Es gibt Mahnmale wie Stolpersteine und Gedenkstätten, die Wissen vermitteln. Dazu kommen Archive, wie etwa das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Ich bin selbst im Verein «Stolpersteine Schweiz» im Vorstand aktiv. Auf unserer Website werden für die Schweiz über 40 Schicksale dokumentiert. Mit diesem und weiterem Material lässt sich die Erinnerungsarbeit verbreitern, vertiefen und auf neue Weise auf die medialen Gewohnheiten einer neuen Generation einstellen. Da liegt eine riesige Chance.

Die letzten Überlebenden werden eines Tages nicht mehr leben. Das ist die eine Entwicklung. Die andere ist: Ihre Zeugnisse sind in digitalen Medien gespeichert, die als schulische Lernmittel Einzug in den Unterricht halten.

Ältere Frau in einem Raum, gestikulierend.
Legende: Manche Holocaust-Überlebende erzählen Schülerinnen und Schülern von der Nazizeit, wie die 103-jährige Margot Friedländer. KEYSTONE/DPA/Kay Nietfeld

Zwei dieser Lernmittel schauen die Jugendlichen an. Eine App der Pädagogischen Hochschule Luzern, die im Wesentlichen aus Videointerviews mit Zeitzeugen und Fragen besteht, die man immer wieder beantworten muss.

Als jemand im Interview sagt: «Das war der Tag, an dem ich meine Familie das letzte Mal sah», ringen manche sichtbar um Fassung, Tränen laufen still. «Noch nicht einmal ein Grab», gebe es von vielen, sagt Leni. «Das ist traurig.»

Mehr als Fakten

Robert erfährt durch diese Interviews, «was nicht im Geschichtsbuch steht. Da stehen die grossen Zahlen und Daten drin.» Das Alltägliche erfahre er in der App, «konkrete Geschichten von ganz normalen Menschen». «Genau», sagt Emilie, «sechs Millionen Menschen kann ich mir nicht vorstellen».

Lern-App «Fliehen vor dem Holocaust»

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Smartphone mit App-Interface und mehreren Porträtbildern.
Legende: OeAD/ERINNERN.AT

Die Geschichts-App wurde von der Pädagogischen Hochschule Luzern zusammen mit der FH Vorarlberg und «erinnern.at», dem österreichischen Institut für Holocaust Education, für den Schulunterricht entwickelt und bietet Jugendlichen ein zeitgemässes digitales Lernangebot über den Holocaust an, mit Text-, Bild-, Ton-, Videodokumenten. Informationsseite für Lehrpersonen mit Download-Möglichkeit.

Das Geschichtsbuch sei schon gut, aber man könne das mit den Geschichten in den Interviews gar nicht vergleichen. Es gehe einem anders nah, wenn man hört, dass eine Holocaust-Überlebende im KZ geboren wurde und wie sie als Neugeborenes versorgt wurde.

Interaktivität und Ernüchterung

Die zweite App, die der Ludwig-Maximilians-Universität in München, verfolgt einen interaktiven Ansatz. Sie basiert auf Interviews, die im Dezember 2018 und Januar 2019 aufgenommen wurden. Statt sich die Videos linear anzusehen, kann man über eine Webapp Fragen stellen, zu denen eine Spracherkennung die passenden Antworten sucht.

Als Jugendliche das in meinem Beisein das erste Mal ausprobieren, ins Mikrofon des Computers sprechen, muss die Spracherkennung erstmal suchen. Dann kommt eine Antwort. Der Mensch im Sessel vor ihnen antwortet. Alle weichen zurück. Carla sagt: «Das ist gespenstisch.» Die Simulation funktioniert.

Lern-App «LediZ»: Lernen mit digitalen Zeugnissen

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Drei ältere Personen sitzen in roten Sesseln.
Legende: Screenshot/edu.lediz.lmu.de

Am Projekt «LediZ» arbeiten und forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Ludwig-Maximilians-Universität München, des Leibniz-Rechenzentrum in Garching, der Technischen Universität Chemnitz und der Washington Western University. Die Webapp bietet umfangreiches Unterrichtsmaterial: Aufgabenblätter, Bild-, Ton-, Video-, Textdokumente, usw.

Je mehr die Jugendlichen an genau den Punkten nachfragen, wo sie gerne in die Tiefe gehen würden, kommt aus der App, dass es zu diesen Fragen keine Antworten gebe. 70 Prozent der Fragen würden beantwortet, sagt Daniel Kolb, einer der Macher, im 3sat-nano-Beitrag.

Wir haben weniger Glück, die Jugendlichen sind frustriert. Und nicht nur sie. Ebenso ging es Guido Berger von der SRF-Digitalredaktion.

Er sagt, dass es wichtig und richtig sei, «Oral History Überlebender durch Text-, Video- oder Audioaufnahmen zu sichern». Die Münchner App werfe aber Fragen auf. Was verspreche man sich davon, dass man zu bestehenden Interviews im Nachhinein Fragen stellen soll?

Digitale Lernmittel und ihre Tücken

Wahrscheinlich ist man bei diesem Projekt davon ausgegangen, dass «es Junge interessiert, wenn es interaktiv ist». Aber man hätte lieber drei 20-minütige Videos online gestellt, «als dass ich mich mit dem Ausdenken einer Frage und einer potenziellen Nichtantwort herumschlagen muss».

Solche halb-interaktiven Formen würden zwischen Stuhl und Bank fallen und seien unbefriedigend, denn sie würden weder als lineare Geschichte noch als vollkommen interaktives Format funktionieren. Eben deshalb, weil ein gewisser oder grosser Teil der Fragen der Schülerinnen und Schüler nicht verstanden wird oder aufgrund mangelnden Materials unbeantwortet bleibt. Prinzipiell findet Berger digitale Lernmittel aber begrüssenswert.

Die neuen Medien bieten die Chance, Erinnerungsarbeit zu verbreitern und zu vertiefen.
Autor: Jakob Tanner Historiker

Heute setzt sich das Erinnern der Jugendlichen aus den verschiedensten Quellen zusammen, ihr Wissensstand ist unterschiedlich, fragmentiert, punktuell sehr tief. Jakob Tanner findet diese neuen Medien eine «riesige Chance, Erinnerungsarbeit zu verbreitern, zu vertiefen, sie auf neue Weise auf die medialen Gewohnheiten einer neuen Generation einzustellen».

An der Tramhaltestelle sehe ich zwei Schüler wieder. Einer von beiden entschuldigt sich: Er habe nicht viel sagen können, das Thema sei zu gross.

Beeindruckend war das ernsthafte Wissenwollen aller, die ich getroffen habe. «Warum ist euch das Erinnern wichtig?», war meine Abschlussfrage. Einer hat gesagt: «Weil es heute wieder Bestrebungen gibt, Menschen zu deportieren. Erinnern ist wichtig, weil wir wissen, wohin das führen kann.»

Befreiung des KZ Auschwitz: Gedenkfeier im Livestrem

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Einfahrtstor mit Schienen in Auschwitz-Birkenau.
Legende: Eingangstor zur Gedenkstätte in Auschwitz. Hier wurden zwischen 1940 und 1945 über 1 Million Menschen ermordet. IMAGO/Ulli Winkler

Am 27. Januar 2025 ab 16 Uhr begeht die Gedenkstätte und das Museum Auschwitz-Birkenau den 80. Jahrestag der Befreiung des deutschen nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz.

Der vom polnischen Fernsehen produzierte Livestream der Gedenkfeier für alle zugänglich und bietet Gelegenheit zum gemeinsamen und globalen Gedenken.

Bücher-, Film- und Medien-Hinweise

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Im Unterricht verwendete Medien, auf die im Text Bezug genommen wird:

  • Edvardson, Cordelia: «Gebranntes Kind sucht das Feuer. Hanser Verlag, 2023.
  • Kerr, Judith: «Als Hitler das rosa Kaninchen stahl». Ravensburger Verlag, 1997.
  • Boyne, John: «Der Junge im gestreiften Pyjama». Fischer Verlag Frankfurt a. M., 2023. 
  • Weiss, Peter: «Die Ermittlung», Suhrkamp 2024, EA Suhrkamp 1965, Dokumentartheaterstück, Uraufführung 19. Oktober 1965. 
  • «Als Hitler das rosa Kaninchen stahl», CH / BRD 2019, Regie Caroline Link.
  • «Nuit et brouillard», F 1955, Dokumentarfilm, Regie Alain Resnais, dt. Fassung von Paul Celan «Bei Nacht und Nebel» 1956, Musik Hanns Eisler.
  • «Holocaust», USA 1978, Serie, Regie Marvin J. Chomsky, mit Meryl Streep, James Woods u. A.

Auswahl Filme:

  • «Shoah», F 1985, Regie Claude Lanzmann.
  • «Schindlers Liste», USA 1993, Regie Steven Spielberg mit Liam Neeson, Ben Kingsley, Ralph Fiennes u. A.
  • «The Zone of Interest», USA, GB, POL 2023, Jonathan Glazer mit Sandra Hüller, Christian Friedel u. A.

Weitere Medienempfehlungen (Auswahl):

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 24.1.2025, 9:03 Uhr.

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