Manchmal schläft Fishel Rabinowicz erst am Morgen ein, weil ihn die Bilder von damals wieder verfolgen – auch 80 Jahre nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager durch die Amerikaner. Wenn er nach vier Uhr immer noch wach liege, stehe er auf, trinke ein Glas Milch und rauche eine Zigarette.
Ja, er rauche immer noch, sagt Fishel Rabinowicz. Aber nur fünf, sechs Zigaretten pro Tag, schmunzelt der 100-Jährige. Lachen kann er noch, Weinen aber könne er seit der Befreiung nicht mehr. Er habe keinen Tränen mehr.
Als KZ-Insasse verlegte er Eisenbahnschienen
Was Rabinowicz erlebt hat, übersteigt das Vorstellbare. Aufgewachsen ist er in Polen, zusammen mit neun Geschwistern. 1941, noch als Minderjähriger, wurde er als Erster der Familie deportiert. Er war insgesamt in neun Arbeitslagern und Konzentrationslagern. Weil er kräftig war, konnte er arbeiten. Er verlegte Eisenbahnschienen, später baute er auch Autobahnen.
Ich war nur noch eine Nummer.
Am schlimmsten war für Rabinowicz, dass er von den Nazis entmenschlicht worden sei: Im Konzentrationslager verschwand sein Name. Er musste sich mit seiner Nummer anmelden, wurde mit seiner Nummer angesprochen. Rabinowicz wurde zur Nummer 19037. Er sei nicht mehr als Mensch anerkannt worden. «Ich war nur noch eine Nummer.» Das sei sein grosses Trauma.
Gegen Ende der Naziherrschaft wurde er mit Hunderten anderen Lagerinsassen auf einen Todesmarsch ins KZ Buchenwald geschickt. Er überlebte den 325 Kilometer langen Marsch. Allerdings wog der damals 21-Jährige nur noch knapp 29 Kilo. Er wurde schwächer und schwächer und legte sich schliesslich unter eine KZ-Baracke, um zu sterben. Am selben Tag wurde er von den Amerikanern befreit.
Von seiner insgesamt 35-köpfigen Familie haben nur vier den Krieg überlebt, darunter er und zwei seiner Brüder. Vier Jahre lang wurde Rabinowicz in Spitälern gepflegt.
Europa hat zugeschaut und Hitler machen lassen.
Dann kam er wegen Lungenproblemen nach Davos. Er lernte in der Schweiz seine Frau kennen und liess sich mit ihr in Locarno nieder. Er wurde Dekorateur und arbeitete in einem Warenhaus.
Man schaut lieber weg statt hin
Erst mit seiner Pensionierung 1989 begann Rabinowicz sein Trauma aufzuarbeiten, indem er künstlerisch tätig wurde. Er wollte das Erlebte für die Nachwelt festhalten. Schreiben kam für ihn nicht infrage. Deshalb besann er sich auf seine jüdischen Wurzeln, die Kenntnisse der hebräischen Sprache, der Kabbala und der jüdischen Zahlenlehre, der Gematria. Auch sein Beruf als Dekorateur kam ihm zugute: Er malte seine Bilder nicht, er stellte sie mittels Papierschneidetechnik her.
Er wolle mit seinen Werken auch die jüdische Kultur vermitteln. Aber, so sagt Rabinowicz, er habe in seinem langen Leben lernen müssen, dass die Menschen sich nicht für jüdische Kultur interessierten. Überhaupt wollten die Menschen nicht zu viel wissen – man schaue lieber weg statt hin. Deshalb habe Nazideutschland einfach machen können, was es wollte. «Europa hat zugeschaut und Hitler machen lassen.»
Dass der Antisemitismus wieder aufflackere in Europa, wundere ihn deshalb nicht. Antisemitismus sei immer da gewesen.
Deshalb sieht es Rabinowicz als seine Aufgabe, seine Geschichte immer und immer wieder zu erzählen, vor allem in Schulklassen. Schliesslich gebe es nur noch wenige, die dieses Grauen erlebt hätten. Rabinowicz ist einer der letzten Überlebenden des KZ Buchenwald.